: Autisten raus aus der Ökonomik
Die Vergabe des diesjährigen Wirtschaftsnobelpreises ist ein Plädoyer für die Marktkritik – und gegen die Trostlosigkeit der herrschenden Betriebswirtschaftslehre
Als Alfred Nobel sein gesamtes Vermögen nach seinem Tod 1896 der Ehrung der Wissenschaften stiftete, war die Zunft der Ökonomen nicht dabei. Über die Gründe zum Ausschluss der Wirtschaftswissenschaft kann nur gerätselt werden. Vermutlich war dem auf Exaktheit fixierten Chemiker Nobel die Nationalökonomie – aus der später die Volkswirtschaftslehre entstand – mangels Exaktheit suspekt. Bei dem mit Dynamit reich gewordenen schwedischen Chemiker und Unternehmer fanden anfänglich nur die Chemie, die Physik und die Medizin Anerkennung; Literatur und Frieden kamen später hinzu. Erst 1968 richtete die Schwedische Reichsbank einen „Preis für ökonomische Wissenschaft zur Erinnerung an Alfred Nobel“ ein.
Bis auf wenige Ausnahmen sind nach der ersten Vergabe 1968 an den Gesamtwirt Ragnar Frisch und den Planungsökonomen Jan Tinbergen vor allem die ehrwürdigen und verdienten Altmeister der Ökonomik in den Olymp aufgenommen worden. Mit der jährlichen Preisverleihung reproduzierte sich lange Jahre der elende Schulenstreit in der Volkswirtschaftslehre nach dem Strickmuster: Nach zwei Exponenten der Lehre des reinen Marktkapitalismus ging der Preis an einen Vertreter des Keynesianismus, also die Forschungsrichtung, die zeigt, dass Marktwirtschaften Krisenprobleme schaffen, die diese aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Geradezu peinlich war die Preisverleihung im Doppelpack 1974: Der Schwede Gunnar Myrdal, genialer Pionier einer alternativen Entwicklungstheorie, teilte sich die Auszeichnung mit Friedrich August Hayek, der auf die Allmacht der Marktkräfte schwor. Insgesamt hatte der Nobelpreis für Ökonomie lange Zeit kaum positive Impulse für die ökonomische Forschung auslösen können – vor allem wegen der beckmesserischen Austarierung der Schulenzugehörigkeit ist immer wieder seine Abschaffung gefordert worden.
Jedoch bei der Auswahl der Preisträger setzte deutlich erkennbar mit dem Jahr 1998 eine Wende ein. Seither rücken kritische Ökonomen in den Mittelpunkt, die den Mut aufweisen, aus der Enge der marktoptimistischen Modellschreinerei herauszutreten. Sie leiden darunter, dass die ökonomische Theorie immer weniger die Realität zu erklären vermag, nach dem Motto: Schade um die Wirklichkeit, wenn sie mit dem Modell nicht übereinstimmt. Nicht mathematisch-methodische Perfektion, sondern die Erklärung der komplizierten ökonomischen Prozesse in Zeit und Raum treiben die Kritiker an.
1998 wurde zum Glücksjahr des Ökonomienobelpreises. Er ging an den Inder Amartya Sen. Er hat sich um die Erklärung und nachhaltige Bekämpfung von Armut in der Welt verdient gemacht. Dank seinem Forschungseinsatz verfügt die UNO heute über einen Index, der im internationalen Vergleich Auskunft über die humanen und sozialen Bedingungen eines Landes gibt. Seine Veröffentlichungen zur ethischen Begründung des Wirtschaftens sollten zur Pflichtlektüre werden.
Aber auch die Vergabe des Nobelpreises im letzten Jahr an George A. Akerlof, A. Michael Spence und Joseph E. Stiglitz wirkten wie ein Paukenschlag. In ihren Arbeiten hatten sie nachgewiesen, dass im Widerspruch zur blutleeren Konstruktion des vollkommenen Marktes die kapitalistische Realität durch Funktionsstörungen der Märkte bewegt wird. Die Marktorthodoxie unterstellt, dass Anbieter wie Nachfrager mit ein und denselben Informationen ausgestattet sind. Die drei Ökonomen zeigen die unterschiedliche (asymmetrische) Verteilung von Informationen, aus denen ökonomische Macht entsteht und letztlich Marktversagen resultiert.
Auch in diesem Jahr werden Außenseiter der Wirtschaftswissenschaft geehrt, die einen Weg aus dem Elend der Nationalökonomie weisen. Sie konzentrieren sich auf eine psychologische Fundierung der ökonomischen Theorie. Mit Daniel Kahneman erhält erstmals ein Psychologe die Ökonomen-Ehrung. Und Vernon Smith erklärte mit Laborexperimenten individuelles Handeln auf psychologische Weise.
Im ersten Moment wirkt die Entscheidung wie eine Ohrfeige für die sich in mathematischen Modellen bewegende Rechthaberei der Lehrbuchökonomie. Die beiden Nobelpreisträger lösen die trostlose Figur des Homo oeconomicus auf. Denn die Reduktion auf zweckrationales Verhalten bei vollkommener Information und starr gegebenen Institutionen kann das wirkliche Marktgeschehen nicht erklären. Die diesjährigen Nobelpreisträger erklären individuelles Entscheiden bei nicht kalkulierbarer Unsicherheit sowie chaotischer Informationsflut. Unter diesem Druck greifen die Akteure in ihrer Entscheidungsnot auf Faustformeln zurück. Gegenüber künftigen Veränderungen prägen bisherige Erfahrungen die Entscheidung. Und siehe da, statt endloser Glasperlenspiele wird wirkliches Handeln von Unternehmen, privaten Haushalten und der Politik erfassbar.
Die Forschungsergebnisse haben eine riesige praktische Bedeutung. Sicherlich hat die Unfähigkeit der herrschenden Wirtschaftswissenschaft, das derzeitige Börsengeschehen zu erklären, zu dieser klugen Entscheidung beigetragen: Im Herdentrieb produziert Gier eine kollektive Illusion über künftige Gewinnchancen. Selbst zweifelhafte positive Informationen werden gierig überschätzt. Mit dieser Entscheidungspsychologie erklärt sich die Kursexplosion am Neuen Markt bis zum Frühjahr 2000. Dass die Spekulationsblase platzen musste, ist klar. Dann schlägt die Massenpsychologie um. Im Herdentrieb wird jetzt auf Börsenabsturz spekuliert. Der kollektive Pessimismus treibt Aktienkurse weit unter die realistische Wertschöpfungsbasis vieler Unternehmen.
Die beiden Nobelpreisträger haben maßgeblich zur Entwicklung einer verhaltensorientierten Erklärung von Finanzentscheidungen (behavorial finance) beigetragen. Ein Blick auf die derzeitige Entwicklung der Weltwirtschaft demonstriert die Aussagefähigkeit ihrer Forschungsarbeiten: Während die marktrationalen Modelle die Entwicklung positiver als die Realität darstellen, erklären die psychologisch ausgerichteten Theorien die durch Unsicherheit und Pessimismus geprägte reale Krisenentwicklung.
Die Entscheidungen des Nobelpreiskomitees für Ökonomie seit 1998 machen all denen Mut, die produktive Grenzüberschreitungen aus der Enge der marktnaiven Modellschreinerei wagen. Die jüngste Prämierung ist ein Plädoyer dafür, endlich wieder interdisziplinär zu arbeiten. Die Erkenntnisse der Preisträger sollten in das wirtschaftswissenschaftliche Studium aufgenommen werden. Denn die derzeitige Verbetrieblichung der Wirtschaftswissenschaft führt zum Verlust marktkritischen Wissens und am Ende auch zu einer trostlosen Betriebswirtschaftslehre. Der Impuls sollte aufgenommen werden: Endlich muss die unhistorische, geradezu autistische Art des Ökonomisierens durch eine wirklichkeitsverankerte, auf Gestaltungsmöglichkeiten ausgerichtete Ökonomik abgelöst werden. RUDI HICKEL
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