: Wir sind das Olk
René Martens‘ Buch über den FC St. Pauli erscheint in neuer Auflage. Die taz sprach mit dem Autor über Geschichte, Fans und Veränderungen im Umfeld
Interview: JULIAN WEBER
taz: Mit „Wunder geschehen immer wieder“ hat dein Buch über den FC St. Pauli eine Neuauflage erfahren. Warum der Titel?
René Martens: Der Originaltitel „You‘ll never walk alone“ ist als Fangesang inzwischen in vielen deutschen Stadien etabliert. „Wunder gibt es immer wieder“ kam letzte Saison auf, nach dem Heimsieg gegen den FC Bayern München. St. Pauli war Tabellenletzter und absoluter Underdog. Als der Mythos Ende der Achtziger begründet wurde, war das ja immer Grundelement. In der Geschichte des Vereins hat es oft Ereignisse gegeben, die man als Wunder interpretieren kann.
Was hat sich im Umfeld des FC St. Pauli seit 1997 verändert?
Die Fankultur hat sich verändert. Stichwort Ultra-Bewegung, die sich auch beim FC St. Pauli etabliert hat. Ein anderes Stichwort wäre Entpolitisierung. Eine Fanszene, wie sie sich Ende der Achtzigerjahre auf St. Pauli gebildet hat, gibt es in der Form nicht mehr. Der Verein ist professioneller geworden. Es gibt inzwischen eine Vermarktung, die auf die Bedürfnisse des professionellen Fußballs zugeschnitten ist.
Man trifft inzwischen überall auf St. Pauli-Fans.
Was die Ausbreitung der Fanbasis angeht, ist der FC St. Pauli vergleichbar mit Vereinen, die aufgrund vergangener Erfolge über das ganze Land verteilt eine Anhängerschaft haben. Zusätzlich verbinden die Leute mit St. Pauli ein Gegenmodell zum etablierten Fußball. Leute, die Ende der Achtziger politisch in Erscheinung getreten sind, hatten einen anderen soziokulturellen Background als jetzige Fans. Früher standen viele der Punkbewegung nahe und waren in der Hausbesetzerszene um die Hafenstraße aktiv.
Ehemalige aktive Fans sind jetzt in der Geschäftsleitung des Vereins tätig.
Das gibt es bei anderen Vereinen nicht. Bei vereinspolitischen Diskussionen spielen die St. Pauli-Fans eine Rolle. Der Spirit von früher wird weitergetragen. Heute geht‘s aber nicht mehr um den Kampf gegen Nazi-Fans, sondern darum, die Nachwuchsarbeit zu fördern.
Du hast in deinem Buch Dokumente abgedruckt, die den Mythos des linken Fußballvereins ankratzen. Du widmest dich auch der nationalsozialistischen Vergangenheit des FC St. Pauli.
Als die erste Auflage dieses Buches erschienen ist, war die Enthüllung, dass der langjährige Präsident und Namensgeber des Stadions, Wilhelm Koch, Mitglied der NSDAP war, eine ziemliche Sensation. Das Buch hat auch dafür gesorgt, dass das Stadion umbenannt wurde.
Interessiert das junge Fans?
Zwischen 1997 und 2002 hat ein Austausch des Publikums stattgefunden, das ist völlig normal. Es gibt schon verschiedene Rezeptionen, was den FC St. Pauli eigentlich ausmacht. Aber bei den Fans herrscht immer noch ein antifaschistischer Grundkonsens. Auch wenn immer mal wieder durch Flugblätter darauf hingewiesen werden muss.
Du zitierst den Philosophen Theodor W. Adorno und erwähnst den Musikjournalisten Hans Nieswandt. Ein reines Sportbuch ist „Wunder gibt es immer wieder“ nicht. Was ist es dann?
Mein Buch ist aus der Fanperspektive geschrieben. Früher bin ich zu jedem Auswärtsspiel mitgefahren, seit 1997 ist meine Haltung dem Verein gegenüber distanzierter. Es ist ein Mix aus Vereins- und Stadtteilkulturgeschichte.
Welcher Spieler verkörpert für dich den Geist von St. Pauli am meisten?
Bernhard Olk. Er spielte Ende der Achtziger rustikal im defensiven Mittelfeld. Von den Rängen gab es dafür den Slogan „Wir sind das Olk.“
René Martens. Wunder gibt es immer wieder. Die Geschichte des FC St. Pauli. Verlag Die Werkstatt, Göttingen, 2002. 288 Seiten, 21,90 Euro. Buchpräsentation heute in der Buchhandlung Cohen&Dobernigg, Sternstr. 4, 18.00 Uhr, zusammen mit dem Stadionhistoriker Werner Skrentny sowie Holger Stanislawski und Alex Meier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen