„Ein bisschen mehr den Leuten helfen“

Sterben will niemand. Will wer?, fragt Dennis Kahn. Er lebt im Ricam-Hospiz in Neukölln. Ignorieren, rät dagegen Käthe Schulz. Sie lebt im Lazarus-Hospiz in Mitte. Anlässlich der Hospizwoche haben sie eingewilligt, über das Leben am Ende des Lebens zu sprechen. Interviews: WALTRAUD SCHWAB

Käthe Schulz heißt sie. Kein Name, der sie aus der Masse der Berlinerinnen heraushebt. Die 75-Jährige hat eine Biografie wie viele ihrer Generation: Kindheit im Faschismus, Jugend im Krieg. Danach eine Befreiung und noch eine in den 50er-Jahren mit Petticoat und Ausbildung zur Technischen Zeichnerin. Danach Heirat mit einem Ingenieur und zwei Kinder. Seit zwei Monaten wohnt Käthe Schulz im Lazarus-Hospiz. Sie hat eingewilligt in ein Gespräch und sie hat sich schick gemacht dafür. Zur Begrüßung streckt sie mir ihre grazile Hand entgegen. Ihre Haut ist glatt und von zarter elfenbeinerner Farbe. Ich sage ihr, dass sie schön ist. „Wenn Sie den Kopf sähen, keine Haare“, wehrt sie ab. Wir sprechen lange miteinander. Die Sprache hebt sich aus den Pausen, dem Schweigen, dem Eigentlichen, wie eine Verletzung hervor.

taz: Frau Schulz, Sie haben Krebs?

Käthe Schulz: Ja. Der Arzt im Humboldt-Krankenhaus hat gesagt: Wir sind mit unserem Latein am Ende. Wie die Sache verläuft, steht in den Sternen.

Haben Sie Hoffnung, dass es wieder besser wird?

Das weiß man nie. Jetzt geht es mir ganz gut. Ich kann essen. Aber ich habe gehört, dass man nur sechs Monate hier bleiben kann. Wo soll ich dann hin? Ich kann nicht laufen. Die Tochter hat einen Buchladen, aber sie kommt jeden Tag.

Ihr Sohn?

Der kommt auch.

Ihr Mann ist gestorben?

Vor vier Jahren. An Hautkrebs, obwohl er nie in der Sonne war.

Ihre Tage im Hospiz, wie sehen die aus?

Man liest was, dann wird ein bisschen Rätsel geraten. Am besten nicht so viel denken. Das kommt von ganz allein.

Und was denken Sie, wenn das Denken kommt?

Ich denke über mich nach.

War Ihr Leben schön?

Ja.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Ja. Ein bisschen. Sehen Sie, da kommt das Denken schon wieder. – Aber das muss ich sagen, die Pflegschaft ist sehr gut hier. Natürlich, die eine Schwester liegt einem näher als die andere.

Als Berlinerin haben Sie den Krieg und die Mauer in der Stadt erlebt …

Den Krieg über waren wir in Hermsdorf. Der Vater hat den Garten gemacht. Da hatten wir immer Gemüse.

Keine Bombennächte, keine Gewalt?

Nein.

Waren Sie Trümmerfrau?

Ja. Aber nur kurze Zeit.

Erinnern Sie sich manchmal an den Krieg und das Danach?

Nein, daran erinnere ich mich nicht mehr. Wir kamen über die Runden. Hamstern waren wir. Ach herrje, in den vollen Zügen!

Was haben Sie gehamstert?

Bei uns auf dem Bahnhof Hermsdorf stand ein Zug mit Care-Paketen. Da waren Zigaretten und Schokolade drin. Die Häftlinge haben den Zug gestürmt, die Pakete in die Menge geworfen. Wir denken, die Häftlinge kamen aus dem Lager. Oranienburg. Die Zigaretten und die Schokolade haben wir dann verkauft.

Wussten Sie von den KZs?

Nein.

Und danach, in den 50er-Jahren? Rock ’n’ Roll, Elvis Presley?

Rock ’n’ Roll habe ich ganz gerne gehört. Elvis-Presley-Fan war ich nicht. Eher Schlager. Das, was man so allgemein trällert. (Sie schließt die Augen.)

Ist es anstrengend für Sie, mit mir zu reden?

Ich kann mich ja nachher wieder ausruhen.

Haben Sie manchmal Heimweh nach Ihrem Zuhause?

Nein.

Hospiz – letzte Herberge. Wie gehen Sie damit um?

Mal so, mal so. Mal kommt man ins Grübeln. Wer weiß, was übermorgen ist. An ein Leben nach dem Tod glaube ich nicht.

Weiß jemand, der hier ist, mehr vom Sterben?

Ich habe mich nicht damit auseinander gesetzt.

Sie glauben nicht, dass Sie sterben müssen?

Doch, doch, natürlich. Das ist der Lauf der Welt.

Wie haben Sie vor der Krankheit gelebt?

Wie ich die Jahre allein gelebt habe? Da habe ich für mich gelebt. Viel spazieren gegangen.

Sie waren genügsam?

Ich begnüge mich mit dem, was ich bin.

Was macht Sie traurig?

Die Irak-Sache, die ganze Nahost-Abschlachterei auch.

Was hat Sie glücklich gemacht in Ihrem Leben?

Verreisen mit meinem Mann. Das war eine gute Zeit.

Wo waren Sie da?

Viel in der Schweiz. – Vielleicht finden Sie noch jemanden, der sich mehr herausstellt. Im Grunde sind wir doch alles arme, kleine Leute. Der eine will sich mehr herausstellen, der andere macht sich nichts draus.

Denken Sie, Sie haben zu wenig in Ihrem Leben gemacht?

Manchmal denkt man das.

Was hätten Sie gerne mehr gemacht?

Ein bisschen mehr den Leuten helfen. Aber die erste Zeit mit meinem Mann war schwer. – Wie gesagt, hier im Hospiz ist man gut aufgehoben.

Wie damals bei Muttern?

Ja, so ist es.

Sie brauchen sich nicht zu schämen für Ihre Schwäche?

Nein, schämen braucht man sich nicht. Das ist das Muttergefühl.

Denken Sie manchmal an Zukunft?

Zukunft spielt keine Rolle.

Haben Sie bei der Bundestagswahl gewählt?

Nein, ich wusste nicht wen. Und dann spielt Zukunft keine Rolle.

Haben Sie sonst bei Wahlen die Zukunft, die Welt aus Sicht der Jüngeren mit einbezogen?

Sie erwarten zu viel.

Warum?

Weil jeder zuerst seins vertritt. Das ist selten, dass die Leute die Kinder mit einbeziehen.

Sprechen Sie machmal mit dem Krebs in sich?

Mit wem?

Mit dem Unberechenbaren.

Noch nicht. Das ignoriere ich. Das hat die Ärztin auch gesagt: Ignorieren. Was später kommt, wissen wir nicht. Wenn’s Essen schmeckt und es einigermaßen geht, dann ignoriert man das.

Langweilen Sie sich hier?

Manchmal ja. Früher habe ich viel gelesen. Bücher. Jetzt hab ich mich auf die Illustrierten geschmissen, dass es schon etwas komisch wird. Vielleicht kommt das Lesen wieder. – Über mich, da gibt es ja dann auch nichts weiter. Zwei Kinder, die man hofft noch ein bisschen zu sehen.

Hadern Sie mit Ihrem Schicksal?

Tja. Wenn ich ehrlich sein will, doch schon ein bisschen, aber es bringt ja nichts. Kummer macht mir, wo komme ich hin, wenn das halbe Jahr rum ist und ich immer noch lebe. Bloß man weiß es nicht. In vier Monaten kann viel passieren.

Dennis Kahn kam Anfang der 70er-Jahre als Vertragsarbeiter nach Berlin. Seinen jugoslawischen Namen Dapko hat er mit der Einbürgerung abgelegt. Der 55-Jährige, der im Kosovo geboren wurde, hat Krebs. Seit zwei Monaten lebt er im Ricam-Hospiz in Neukölln. Sein Zustand hat sich in der letzten Woche verschlechtert. Er schwitzt. Mit einem Handtuch, das er sich um den Kopf gewickelt hat, wischt er immer wieder den Schweiß von der Stirn. Während wir reden, läuft der Fernseher. Musikbox. „Wer Liebe lebt, ist niemals allein“, „Mendocino“, „Weil du zärtlich zu mir bist“ ist zu hören.

taz: Herr Kahn, Ihnen geht es nicht gut heute, hat die Schwester gesagt.

Dennis Kahn: Nein, nicht so gut. Fieber. Kopfschmerzen.

Fühlen Sie sich hier im Hospiz aber umsorgt?

Ja. Nirgendwo sonst ist so schöne Hilfe.

Seit wann sind Sie krank?

Angefangen hat es 1995. Operationen. Chemotherapie.

Sie wurden in Berlin krank?

Ja.

Was haben Sie gearbeitet?

Montage.

Haben Sie Familie?

Nein. Ich habe mit Frauen gelebt. Mal mit einer elf Jahre. Mal mit einer drei Jahre.

Und noch Kontakt zu ihnen?

Eine ist sofort gekommen, als sie das von mir gehört hat. Aber was kann ich machen. Ich bin kaputt. Ich halte mich mit Gewalt.

Sie halten sich mit Gewalt am Leben?

Ja, ich kämpfe. (Er zieht sich am Griff über dem Bett hoch.) Sterben will keiner. Will wer? Ich habe meine Familie eingeladen. Was ist, wenn ich nicht mehr da bin, wenn sie kommen?

Ist Ihre Schwester aus dem Kosovo nicht bereits da?

Schon, aber ihre Kinder, ihre Enkelin nicht. Ich habe die Kleine nicht gesehen.

Wann waren Sie zum letzten Mal im Kosovo?

1999. Sie ist 2000 geboren.

Sie möchten unbedingt die Enkelin der Schwester sehen?

Ja, die Kleine. Ich wollte hinfliegen, aber ich kann nicht mehr sitzen. (Er zeigt ein kleines Foto des Mädchens. Als Rahmen dient ihm die Hülle der EC-Karte.)

Sie sieht Ihnen ähnlich.

Ein bisschen. Ich habe doch keine Familie. (Er hört den Schlagern zu.)

Haben Sie Schmerzen?

Und wie.

Angst vor dem Tod?

Wissen Sie, wir haben alle diese Einfachfahrkarte. Aber wenn man daran denkt, man hat nichts geschafft, nichts gemacht. Und dann möchte man was machen, aber mit der Krankheit geht es nicht. Dann fühlen Sie sich schuldig. (Er weint.)

Schuldig?

Ja. Große Leute, Napoleon, ganz Frankreich ist hinter ihm gestanden, als er starb. Was bin ich?

Was hätten Sie gerne im Leben gemacht?

Die Menschen wollen zu 70 Prozent eine Familie.

Sie haben keine Kinder?

Nein. Meine Freundin. Sie wollte nicht. Ich sage, das entscheidest du. Sie war zu jung. Sie war eine deutsche Frau.

Abgetrieben?

(Er nickt.) Die andere Frau. Da habe ich gesagt: Später, später. Wenn man nichts geschafft hat, fühlt man sich schuldig.

Sind Sie religiös?

Religion ist wie Liebe. Liebe ist wie Luft. Man kann sie nicht greifen. (Er greift mit der Hand in die Luft und zeigt die leere Handfläche.) Ich fühle mich wie im Karussell, wenn ich an Religion denke. Vielleicht ist es der richtige Weg. Aber wenn ich sage, es gibt keinen Gott und es gibt doch einen, dann bin ich schuldig, wenn ich tot bin.

Was ist Ihr größter Wunsch?

Ich wünsche mir eine schöne Zukunft für die Menschheit. Keine Kriege. Und Umweltschutz muss besser sein. Der amerikanische Präsident ist nicht gut. Das ist Krieg gegen die Menschheit und gegen die Zukunft der Kinder.

Haben Sie Kriege erlebt?

Als der Krieg bei uns zu Hause angefangen hat, war ich im Kosovo und bin dann in die Türkei. Ich hatte ein Flugticket Istanbul–Berlin. Das ist billiger. Von Istanbul in den Kosovo gibt es Busse.

Sie haben die Familie im Kosovo unterstützt?

Ja. (Er zeigt eine Verfügung der „Militärmission der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“ von 1975, die ihn zum Vormund seines jüngeren Bruders bestimmt.) Ich bin gelaufen wie Nashorn. Gearbeitet. Ich habe nicht rechts und links geguckt. Aber andere Menschen verletzen? Nein. Niemals. Meine Krankheit wünsche ich dem Feind nicht. (Er macht eine Faust und legt den Finger der anderen Hand quer darüber.) Der Krebs hat die Hälfte meines Körpers aufgefressen. (Tränen laufen über sein Gesicht. Inzwischen ist seine Schwester zu Besuch gekommen.)

Gibt es etwas, was ich nicht gefragt habe? Etwas, das unbedingt aufgeschrieben sein soll?

Dass die Ärzte die Menschen richtig behandeln sollen. Nicht wie bei mir. Zwei Jahre falsche Diagnose. Und der Arzt kriegt Geld dafür. Warum nicht wie bei Handwerker? Da wird kontrolliert, ob es richtig gemacht ist.