DIE FURCHT VOR DER ATOMBOMBE NUTZT MEHR ALS DIE WAFFE SELBST
: Nordkoreas atomare Ambivalenz

Die Machthaber in Pjöngjang mögen rückständig sein und in einer irrealen Welt leben, in einem Punkt denken sie rational und handeln äußerst geschickt. Wie keine andere Staatsführung beherrscht das Regime das Spiel mit der atomaren Ambivalenz: Seit Beginn der Neunzigerjahre versteht es das isolierte Nordkorea, sich mit seinem Atomprogramm internationales Gewicht zu verschaffen. Nirgends sonst wird so deutlich, dass nicht eine reale Atomwaffe das beste Druckmittel ist, sondern die kalkulierte Furcht vor der Beschaffung der Bombe.

Auch jetzt hat Pjöngjang gegenüber einer US-Delegation wieder vage Andeutungen gemacht, aber eben keinesfalls zugegeben, weiter an einer Atomwaffe zu arbeiten. Diese Balance folgt einer konsequenten Strategie. Stets war Nordkorea darauf bedacht, keinen Schritt zu weit zu gehen. Als im März 1993 Inspektionen verdächtiger Anlagen drohten, kündigte Pjöngjang seine Mitgliedschaft im Vertrag über die Nichtverbereitung von Atomwaffen – ein bislang einmaliger Vorgang mit unabsehbaren Folgen. Erst einen Tag vor Ablauf der im Vertrag festgelegten Kündigungsfrist von drei Monaten änderte Nordkorea seine Haltung. Sein Ziel hatte das Land erreicht: internationale Aufmerksamkeit und die Gesprächsbereitschaft der USA. Seitdem gibt es die paradoxe Situation, dass Nordkorea einerseits daran interessiert sein muss, den Dialog fortzusetzen, andererseits aber befürchtet, dass bei zu viel Offenheit die Furcht vor der Atombombe nicht mehr wirkt und das Regime wieder in Bedeutungslosigkeit und Isolation zurückfällt.

Absurderweise kommt die atomare Ambivalenz Nordkoreas auch den USA gelegen. So kann sie das Potenzial jeweils so dramatisch darstellen, wie es in die aktuelle Strategie passt: Geht es darum, das Raketenabwehrprogramm der USA zu legitimieren, ist es opportun, eine Bedrohung durch atomar bestückte Raketen aus Nordkorea zu konstruieren. Geht es aber darum, einen Krieg gegen den Irak vorzubereiten, dann könnte zu viel Aufregung um Nordkoreas Waffenpotenzial eher stören: Bush müsste dann erklären, warum die USA mit Pjöngjang verhandeln konnten, gegen den Irak aber Krieg führen wollen. ERIC CHAUVISTRÉ