In der Anstalt

Über den Schweizer gibt es viele Vorurteile, aber kaum gesicherte Erkenntnisse. Eine Feldforschung auf ungeschütztem Terrain

von TONI KEPPELER

Dies ist keine abschließende Untersuchung, sondern nicht mehr als der Versuch einer ersten Annäherung an eine weitgehend unbekannte, bislang nur wenig erforschte und in ihrer Fremdheit und Eigenartigkeit jedenfalls unterschätzte Spezies: den Schweizer Mann.

Einschränkend muss vorausgeschickt werden, dass meine bislang sieben Monate dauernde Feldforschung lediglich in der Stadt Zürich durchgeführt wurde. Allerdings zieht diese Stadt Schweizer aus dem gesamten Land an. Ich habe bei persönlichen Interviews Berner, Basler, Luzerner, Appenzeller, selbst Menschen aus dem entlegenen Wallis identifizieren können. Der in Zürich verkehrende Männerschlag dürfte also durchaus Rückschlüsse auf Identität und Eigenartigkeit des Gesamtschweizer Mannes zulassen. Eine weitere einschränkende Vorbemerkung: Die sprachliche Kommunikation mit der zu untersuchenden Gruppe, vor allem mit Bernern und Wallisern, hat sich nicht immer einfach gestaltet. Missverständnisse können deshalb letztlich nicht ausgeschlossen werden.

Die angewandte Untersuchungsmethode habe ich in vielen Jahren entwickelt und bereits auf Männer verschiedener ethnischer Zugehörigkeit in ihrem jeweiligen natürlichen Umfeld angewandt. Kurz zusammengefasst handelt es sich darum, sich als teilnehmender Beobachter unter die zu untersuchende Gruppe zu mischen, und zwar an einem Ort, an dem sie sich ungeschützt, offen, ja, geradezu nackt präsentiert. Als passionierter Schwimmer habe ich als Ausgangspunkt meiner Untersuchungen in verschiedenen Ländern und Kulturkreisen jeweils die Umkleidekabinen öffentlicher Badeanstalten gewählt. Aus einem so einfachen wie einleuchtenden Grund: Nirgendwo ist der Mann in größerer und deshalb statistisch relevanter Menge so nackt wie in der Umkleidekabine. Der Untersuchungsgegenstand breitet sich dem teilnehmenden Beobachter gewissermaßen offen aus. Trotzdem nimmt der Untersuchungsgegenstand den Beobachter nicht als solchen wahr, da dieser sich scheinbar gleich verhält und die dem Umfeld angemessenen Verrichtungen vollzieht. Ein idealer Ort also für eine ethnografische Feldstudie.

Die bei diesen Beobachtungen gewonnenen Erkenntnisse werden später mit Beobachtungen aus dem Alltagsleben der zu untersuchenden Gruppe und mit den Ergebnissen historischer Forschung über ihre Ethnie abgeglichen. Die daraus abgeleiteten Schlüsse erlauben eine näherungsweise idiografische Beschreibung.

Ausgangspunkt meiner Forschung über den Schweizer Mann ist das Hallenbad City an der Sihlstraße 71, nahe dem Zentrum von Zürich. Der schlichte Zweckbau wurde vermutlich in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts errichtet. Beckengröße und Wassertemperatur spielen für diese Untersuchung keine Rolle. Wichtig ist vielmehr die Tatsache, dass diese öffentliche Schwimmanstalt im Umkleidebereich der Männer über keine Einzelkabinen, sondern über vier große Sammelkabinen verfügt. Die Räume sind jeweils zirka zwölf Meter lang und vier Meter breit. Auf fast der gesamten Länge steht in der Mitte eine Bank. An den Wänden links und rechts davon befinden sich schmucklose, weiß lackierte Metallspinde. An den beiden Schmalseiten sind jeweils zwei Spiegel angebracht. Ich besuche diesen Ort meist um die Mittagszeit, nach Möglichkeit mehrmals in der Woche. Meine Untersuchung erfolgt in zwei jeweils rund zehnminütigen Einheiten pro Besuch.

Die augenscheinlichste Erkenntnis meiner Beobachtung liegt im Unterschied zwischen dem angezogenen und dem ausgezogenen Schweizer. Angezogen wirkt der Schweizer groß (der Durchschnitt dürfte etwas über 1,80 Meter liegen), verhältnismäßig schlank und sehr gepflegt. Letzterer Eindruck mag dadurch entstehen, dass das Hallenbad City zu der von mir gewählten Zeit überwiegend von Männern mittleren Alters besucht wird, die ihrem Broterwerb wahrscheinlich in Büros mit Publikumsverkehr – etwa in Banken – nachgehen. Ein hoher Prozentsatz der beobachteten Gruppe trägt in angezogenem Zustand Anzug und Krawatte. In nacktem Zustand aber verändert sich der zunächst gewonnene gediegene Eindruck: Der meist weiße Körper des durchschnittlichen Schweizers ist von einer durchgehenden, deutlich sichtbaren Speckschicht überzogen und strahlt eine gewisse Ungeschlachtheit aus. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man den Körper in seiner Bewegung beobachtet. Dem Schweizer ist ein eher fester Schritt zu eigen, dumpf und zielgerichtet.

Der Schweizer ist sich ganz offensichtlich der Ausmaße seines Körpers nur wenig bewusst. Letztere Feststellung fußt auf ungezählten und ungewollten körperlichen Kontakten mit der beobachteten Art, die ich mit schnellen seitlichen Ausfallschritten nur selten verhindern konnte. Bei den oben beschriebenen Maßen der Umkleidekabinen lassen sich ungewollte Kollisionen theoretisch leicht vermeiden. Dass sie trotzdem gehäuft vorkommen, spricht für ein nur mangelhaft entwickeltes Körpergefühl des Schweizers. Er besitzt keine Aura, kein Gespür für sich selbst und den Raum, der ihn umgibt.

Eine weitere erstaunliche Eigenheit ist in der Umkleidekabine und nur dort zu registrieren: Am nackten Schweizer Mann mittleren Alters lassen sich bei näherer Betrachtung oft kleine Tätowierungen entdecken, die nur wenige Quadratzentimeter Haut bedecken. Meist handelt es sich dabei um geometrische Muster. Sie sind fast ausnahmslos im Schulter- oder Oberarmbereich angebracht, so dass sie am Schweizer in Unterwäsche bereits bedeckt und also nicht mehr sichtbar sind. Das Anbringen solcher Tattoos ist in der ethnologischen Erforschung der Schweizer bislang nicht belegt. Es kann deshalb die Hypothese aufgestellt werden, dass es sich dabei um ein relativ junges Phänomen handelt, das einen verborgenen Wunsch nach Unkonventionalität und Veränderung ausdrückt. Gleichzeitig aber sind die überkommenen Konventionen noch so stark, dass der äußerliche Schein von Korrektheit aufrechterhalten werden soll.

Vergleicht man den Schweizer in der Umkleidekabine mit dem außerhalb dieses Laboratoriums, so fällt ein weiterer markanter Widerspruch auf: In der Umkleidekabine ist er, obwohl nackt, gleichzeitig verschlossen und stumm. Bei vielen Besuchen ist es mir nicht gelungen, verbalen Kontakt aufzunehmen. Außerhalb der Umkleidekabine und in angezogenem Zustand dagegen wirkt der Schweizer freundlich und aufgeschlossen. Häufig kommt es vor, dass man von wildfremden Menschen mit dem landesüblichen „Grüezi“ angesprochen wird. Mehr als eine Erwiderung wird jedoch selten erwartet. Der Schweizer scheint sich durch zur Schau getragene Freundlichkeit vor Fremden schützen zu wollen. Seine Privatheit aber verteidigt er mit Verschlossenheit und Stummheit. So ist es zum Beispiel nahezu unmöglich, in das Eigenheim eines Schweizers vorzudringen. Andere Nichtschweizer, die sich zum Teil schon länger als eine Dekade um den Schweizer bemühen, haben mir berichtet, dass ihnen dies erst nach Jahren und dann auch nur sehr selten gelungen sei.

Meine bislang gewonnenen Erkenntnisse fügen sich nahtlos in das Gesamtbild der historischen Forschung über diese Ethnie. So ist in der entsprechenden Fachliteratur allgemein bekannt, dass der Schweizer Mann im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit ein von europäischen Herrschern wegen seiner brutalen Grobschlächtigkeit und seiner eisernen Disziplin geschätzter Söldner war. Sein Schritt war fest, dumpf und zielgerichtet. Der Schweizer Söldner verließ nie Reih und Glied. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass das militärische Marschieren nach Trommelwirbeln und in Reih und Glied von Schweizer Männern erfunden wurde.

Der Ursprung des Schweizers liegt im Gebirge. Der Ursprungsmythos des Schweizer Mannes berichtet von engen Tälern, lichten Höhen und von einem Freiheitsdrang. Die engen Täler mögen die Verschlossenheit erklären, die lichten Höhen das mangelnde Gefühl für die Grenzen von Körper und Raum. Letzte Hinweise auf den Freiheitsdrang finden sich in den verborgenen Tattoos.

Doch die Zeit des Ursprungsmythos ist zumindest am Ort meiner Untersuchung längst vergangen. Die Stadt Zürich wurde vom Schweizer zur Bankenmetropole gemacht. Seine Verschlossenheit, die nahe bei der im Bankgeschäft üblichen Diskretion liegt, war ihm dabei von Nutzen. Auch die unverbindliche Freundlichkeit, mit der sich der ursprünglich einsame Bergmensch vor größeren Menschenmengen zu schützen versucht, ist bei solchen Geschäften förderlich. Doch unter dem tadellosen Anzug des Bankers lauert noch immer der ungeschlachte Mensch mit dem Freiheitsdrang. Der Mythos lebt: Im Schweizer Banker schlummert Heidis bester Freund, der Ziegenpeter.

TONI KEPPELER, 46, war lange Jahre Mittelamerikakorrespondent der taz. Seit März lebt er in Zürich und arbeitet in der Auslandsredaktion des Nachrichtenmagazins Facts