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Von vornherein auf mehr angelegt

Es war klar, dass die Charta vorerst unverbindlich bleiben würde. Aber es entstand ein Text, der sein Potenzial in einer EU-Verfassung entfalten könnte

von CHRISTIAN RATH

Jürgen Meyer ist ein Politiker, der an die Kraft der Wissenschaft glaubt. Vor zwei Jahren war er einer der maßgeblichen Väter der Europäischen Grundrechtecharta. Dann begann er, einen wissenschaftlichen Kommentar über diese Charta zu schreiben. Jetzt sitzt der SPD-Mann im Brüsseler Konvent, der eine EU-Verfassung ausarbeiten soll, und verteilt fleißig und zielbewusst Vorabauszüge aus dem noch nicht erschienenen Kommentarwerk.

Eines von Meyers Hauptzielen ist die Verankerung der bisher noch unverbindlichen Charta im bis 2003 entstehenden EU-Verfassungsvertrag. Deshalb trifft er sich heute um 8 Uhr mit seiner größten Widersacherin, der Baroness Patricia von Schottland zum Frühstück. Wie andere britische Delegierte im Konvent will sie zwar akzeptieren, dass die im Dezember 2000 feierlich verkündete Charta künftig verbindlich ist. Nach ihrer Vorstellung würde aber ein unscheinbares Protokoll genügen. Für Jürgen Meyer wäre das ein Frevel: „Eine Verfassung braucht einfach einen Grundrechteteil“, hält der Freiburger Rechtsprofessor und Exbundestagsabgeordnete dagegen.

In der Aktentasche hat Meyer nun einige Vorschläge des portugiesischen EU-Kommissars Antonio Vitorino, die den Briten die Zustimmung zu einer Verankerung der Charta im Verfassungsentwurf erleichtern sollen. Betont wird dabei vor allem, dass die Charta der EU keinerlei neue Kompetenzen zu Lasten der Mitgliedstaaten bringt. Die Briten machte es zum Beispiel misstrauisch, dass ein Chartaartikel besagt: „Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt werden“, obwohl die EU noch gar kein eigenes Strafrecht beschließen darf. Doch solche Vorratsartikel müssen wohl sein, wenn man europäische Werte nach innen und außen dokumentieren will.

Falls es Jürgen Meyer gelingt, die schottische Baroness zu überzeugen, dann wartet ab 9.30 Uhr schon das nächste Stück Arbeit auf ihn. Dann muss er in der „Charta“-Arbeitsgruppe des Konvents Leute wie den Luxemburger Ben Fayot besänftigen, die den Briten eigentlich gar keine Zugeständnisse machen wollen. Hier wird er argumentieren, dass Vitorinos Klarstellungen nicht über das hinausgehen, was den EU-Skeptikern schon vor zwei Jahren konzediert wurde.

Die von Vitorino geleitete Charta-AG will heute nämlich ihren Abschlussbericht beschließen, der nächste Woche schon im Plenum vorgestellt wird. Vermutlich wird es eine große Mehrheit dafür geben, die Charta mit ihren 54 Artikeln an den Beginn einer EU-Verfassung zu stellen. Klar ist jedenfalls, dass es bei allen Garantien nur um Rechte gegenüber den Akten der EU geht. Es war nie das Ziel der Charta, die nationalen Verfassungen zu vereinheitlichen. Für Akte der deutschen Staatsgewalt, die auf innerstaatlichen Gesetzen beruhen, wird also auch weiterhin das Grundgesetz maßgeblich sein.

Noch unklar ist allerdings, wie die neuen europäischen Grundrechte letztlich eingeklagt werden können. Vermutlich wird es keine europäische Verfassungsbeschwerde geben, mit der jedes auf EU-Recht beruhende nationale Gerichtsurteil beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg angefochten werden könnte. Eher wird es zu einer behutsamen Erweiterung des EU-Rechtsschutzes kommen, der dann aber auch jenseits von speziellen Grundrechtsfragen gälte (siehe Interview).

Offen ist auch noch, ob die EU demnächst die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarates unterzeichen wird. Dies wäre ein mehr als symbolischer Schritt hin zu einem größeren Europa. Denn damit unterstellten die derzeit 15 EU-Staaten ihr Tun der abschließenden Grundrechtskontrolle des Europarates, dem bereits 44 Staaten (auch aus Osteuropa) angehören.

Zunächst steht in Brüssel allerdings die EU-Grundrechte-Charta im Vordergrund. Sie war von 1999 bis 2000 ebenfalls von einem Konvent erarbeitet worden. Kopf der Versammlung war damals Roman Herzog, der ehemalige deutsche Bundespräsident. Es war zwar klar, dass die Charta vorerst unverbindlich bleiben würde, um die EU-Skeptiker nicht zu überfordern. Doch unter Herzogs Leitung entstand ein Text, der von vornherein auf mehr angelegt war und nun bald sein Potenzial in einer EU-Verfassung entfalten könnte.

Sind aber erst einmal die Weichen entsprechend gestellt, werden viele Lobbygruppen eine zweite Chance wittern, ihre Anliegen in der Charta unterzubringen. Dann werden die Kirchen auf eine deutlichere Beschreibung ihrer Rechte drängen und der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf Sonderbestimmungen.

Doch Jürgen Meyer ist entschlossen, dem Druck nicht nachzugeben: „Wer die Charta inhaltlich verändert, wird ihre Verbindlichkeit verhindern.“ Und Meyer weiß auch schon, wie er die Lobbyisten zufrieden stellen kann: Anhand von Kopien seines Kommentars wird er ihnen beweisen, dass all ihre Anliegen im bestehenden Text längst berücksichtigt sind.

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