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Die alte Dame vom Grill

Doppeljubiläum auf dem Steglitzer Wochenmarkt: Am Donnerstag feiert Ursula Andrea ihren 80. Geburtstag und ihr 50-jähriges Betriebsfest als Würstchenverkäuferin. Der Markt ist ihr Leben

von WALTRAUD SCHWAB

In der Imbissbude hängt eine Tafel: „Bitte zu meinem Jubiläum am 24. 10. keine Blumen und Geschenke. Ein Schwein wartet auf Inhalt. Den Inhalt sollen jene kriegen, die nicht so viel Glück hatten wie ich im Leben.“ Glück also hatte Ursula Andrea. Imbisswirtin. Würstchenbudenbesitzerin. Liebhaberin von 102 Gartenzwergen. 80 Jahre alt wird sie morgen. Das eigentliche Jubiläum aber: Seit 50 Jahren zieht sie über die Wochenmärkte mit ihrem Stand, verkauft Bockwurst, Knacker, Breslauer, Wiener und Currywurst ohne Darm.

Morgens um vier spannt sie den Imbisswagen hinter ihren Jeep und karrt ihn mal vor das Rathaus in Lankwitz, mal zum Kranoldplatz in Lichterfelde, mal zum Wochenmarkt auf dem Hermann-Ehlers-Platz. Dann wird die Klappe aufgemacht, die erste Wurst aufs Feuer gelegt, die Welt von oben betrachtet. 50 Jahre lang. 5 Tage die Woche. 12 bis 14 Stunden Arbeit täglich. „Wenn man es so sieht: Mein Leben ist der Markt“, sagt sie und verteilt ihr verlässliches Lächeln an die Kundschaft. Sie hat kleine Jungs erwachsen werden sehen, sie bedient die Kindeskinder von Leuten, die früher zu ihr kamen, sie ist eine Institution. Keine aufdringliche. Solange Ursula Andrea hinterm Grill steht, ist die Welt des Berliner Südens im Lot. „Frau Andrea, Sie noch hier? Haben Sie Ihre Rente verpasst?“, fragt ein Gast. Schlagfertige Antworten kommen dieser Marktfrau nur langsam über die Lippen. Sie berlinert nicht, obwohl sie in Kreuzberg geboren ist. „Ich dachte, Sie sind in Ihrem Imbiss zur Welt gekommen“, kommentiert einer, der eine Breslauer isst. 1,40 Euro bezahlt er dafür. 2 Euro mit Kaffee.

Gelernt hat Andrea im Hotelfach. Aber Anfang der 50er-Jahren waren die Zeiten schlecht. „Irgend was musste machen, probierstes mal mit Wiener“, hat sie sich gesagt. Eine für 25 Pfennig. Damals noch mit Wasserkessel auf Propangas am Stand. „Man muss ja Geld verdienen“, sagt sie. Ihre Weisheiten sind einfach. „Als Marktfrau bin ich nicht auf die Welt gekommen.“ Selbstverwirklichung war: „den Mann stehen“. Das kannte sie noch aus dem Krieg, als die Frauen an der Heimatfront waren. Ungelernt musste sie damals in einer Bank arbeiten. „Ging auch.“

Andreas Überlebensstrategie mit dem Imbiss wurde ein Erfolg. Sie expandierte, hatte Stände auf verschiedenen Märkten und zwölf Angestellte. Sechs aus dem Westen, sechs aus dem Osten. Letztere fehlten ihr nach dem Mauerbau. Da musste die damals 16-jährige Tochter Ingrid ran. Deren Traumberuf: Tierärztin. „War nicht.“ Seit 41 Jahren steht sie nun schon mit ihrer Mutter hinterm Grill. Die beiden verstehen sich gut. Einmal im Jahr wird in den „Mutter-Tochter-Urlaub“ gefahren.

Ein halbes Jahrhundert geht das jetzt so. Sommers. Winters. Bei Hitze und Schnee. „Ist mein Leben ebend“, sagt Andrea. Krank wird sie selten, Rheuma hat sie keins. Wie 80 sieht sie nicht aus. „Das ist die Luft“, sagt die Tochter. Die Mutter nimmt nur Nivea-Creme. „Wie Edith Hanke.“ Es ist, wie es ist. „Wenn’s mir keinen Spaß machen würde, wär ich nicht hier.“ Hier, das ist der Logenplatz im Imbisswagen, vor dem sich das Leben entfaltet. An ihrer Theke wurden Ehen angebahnt und geschieden. Hier haben sich betrogene Frauen ausgeheult, Schwangere ihr Geheimnis gelüftet, Sitzenbleiber sich Mut gemacht, Arbeitslose Tipps bekommen. Vor Andrea lief 50 Jahre Lindenstraße live. „Geht ihr wieder zu eurer Sozialstation“, sagt Paul Wolpert, Ingrids Mann, wenn sie morgens losziehen. „Es gibt viele, die sind in meinem Alter“, sagt Andrea, „die wollen was loswerden, aber die haben ja sonst niemanden mehr.“ Die Ratschläge, die die beiden verteilen, sind so beständig wie sie selbst: „Immer an die frische Luft. Bewegen. Bewegen. Nicht zu Hause bleiben. Wer rastet, der rostet.“ Das gilt auch für Andrea selbst. Mit 65 will Ingrid, die Tochter, aufhören. Acht Jahre sind es bis dahin. „Die nehm ich noch mit“, sagt Andrea.

Und das Traurige im Leben? „Wenn das Auto nicht anspringt. Wenn das Tor zugeparkt ist. Wenn einem der Mann stirbt.“ Zweimal hat Andrea es erlebt. Darüber sprechen ist nicht. Sie ist Zuschauerin. Ihre Geschichte bleibt privat. „Am besten ist ihr Lächeln“, sagt Käse-Otto, Marktkollege von der Firma Loch an Loch. Sein Fazit, vorgebracht im neckenden Markt-Jargon: „Ein bisschen was von der Muppet- Show haben die beiden.“

Zum Jubiläum gibt es morgen auf dem Steglitzer Wochenmarkt Wiener für 25 Cent und Kaffee umsonst.

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