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Neuigkeiten für Fünf-Glücks-Dorf

Wie wichtig sind für die Pekinger Parteiführung die Pflaumenpreise in der chinesischen Provinz?

aus Sichuan GEORG BLUME

Wie sein Vater und sein Großvater vermag Chen Yong, eine halb getrocknete Bambusstange mit dem Messer so aufzuschlitzen, dass daraus binnen weniger Minuten eine stabile Forke entsteht. Nicht mehr viele in Fünf-Glücks-Dorf in der südwestchinesischen Provinz Sichuan können das. Doch dem 45-jährigen Reisbauern in Volksarmeehose und Adidas-Sweatshirt käme es nicht in den Sinn, stolz darauf zu sein.

Im Dorf war Chen immer einer der Letzten, auch als er sich 1996 endlich ein Haus aus Stein und Beton bauen ließ. Die Nachbarn fuhren damals schon Motorrad oder kauften einen Fernseher. Doch die Zeit, in der alle das Gleiche tun mussten, ist in China ein für alle Mal vorbei. Selbstsicher folgt Chen seinem eigenen Modernisierungstempo: „Drei Jahre denken, drei Jahre sparen – so lange braucht eine gute Sache“, sagt der Bauer, während er mit dem neu gefertigten Werkzeug Reisig für seine Frau zum Küchenherd trägt und neben ihm die Enten im Reisfeld baden. Inzwischen sind seit dem Hausbau wieder drei Jahre Bedenk- und drei Jahre Sparzeit vergangen – Chen steht kurz vor der Errichtung eines neuen Schweinestalls.

So geht das Leben voran. „Wir erwarten große Veränderungen“, weiß Chen und berichtet über den geplanten Straßenausbau des Trampelpfads, der zu seiner Haustür führt, sowie der Umstellung vom alten Reis- auf modernen Obstanbau. Aber ob er auch von den großen Veränderungen in Peking weiß? „Ich habe keinen Fernseher“, entgegnet der Bauer beim Mittagsmahl, einer Schüssel voll Reis mit scharfem Gewürz. „Meinen Sie den Parteitag?“ Erleichtert registriert Chen, dass er mit seiner Vermutung richtig liegt. „Man spricht davon auf dem Markt“, setzt er hinzu. Von nun ab muss man Chen während des Essens jeden Satz einzeln entlocken. „Es kümmert uns Bauern nicht, ob der Parteichef wechselt“, versucht er das ungeliebte Gerede über Politik abzuwehren. War es also egal für die Bauern, ob Mao Tse-tung oder Deng Xiaoping das Land regierte? „Aber nein. Unter Mao gab es Hungersnöte. Seit Deng nicht mehr. Seither ist uns egal, wer in Peking regiert“. Und warum? „Jetzt haben wir Bauern Land und können machen, was wir wollen. Uns die Arbeit selbst einteilen und die Ernte verkaufen.“ Konnten das seine Väter und Großväter etwa nicht? „Nein. Unter Mao durften die Bauern nichts allein entscheiden. Davor, unter den Großgrundbesitzern, auch nicht.“

Chen spricht in kurzen Sätzen, frei von Partei- und Medienfloskeln. Doch genauso, wie er die Lage der Bauern beschreibt, muss sich der Sichuaner Deng Xiaoping das alles einmal vorgestellt haben. Der Kleine Steuermann regierte die Volksrepublik von 1978 bis zum 14. Parteitag der Kommunistischen Partei (KP) im Jahr 1992 nahezu uneingeschränkt. Er starb 1997. Bis heute aber zehrt China von seinem Reformwerk. Bereits Anfang der 80er-Jahre ließ Deng mit einer Bodenreform getreu sozialistischen Vorstellungen jedem Bauern ein Stück Land zur freien Verfügung geben und schuf damit sozialen Frieden. Zugleich rief er jeden einzelnen Chinesen zum Geschäftemachen und Reichwerden auf und legte damit den Grundstein für wirtschaftlichen Aufschwung.

Der reformerische Doppelschritt entsprach Dengs tiefster Überzeugung: Er, der in Frankreich studiert hatte, presste die Ideale der Französischen Revolution zusammen mit Sozialismus und Kapitalismus in eine von unzertrennlichen Gegensätzen (Yin und Yang) gekennzeichnete chinesische Weltanschauung. So entstand seine Vorstellung von der „sozialistischen Marktwirtschaft“, die sich heute in fast jedem chinesischen Bauernhaus materialisiert. Auch Bauer Chen lebt einerseits von seinem sozialistisch zugeteilten Stück Land. Andererseits hält auch er es mit dem kapitalistischen Traum: Über seinem Esstisch fällt der Blick auf ein altes, schon vor Jahren ausgerissenes Kalenderblatt, das ein rotes Sportcoupé, Marke BMW, zeigt.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass Chens Kinder einmal BMW fahren. Seine 21-jährige Tochter arbeitet tausende Kilometer entfernt im reichen Schanghai, wo BMW eigene Verkaufshäuser unterhält. Sein 18-jähriger Sohn dient der Volksarmee in Peking. „Die Kinder bringen so viel Geld nach Hause, dass ich mir manchmal weniger Anbaufläche wünsche“, sagt Chen und beschreibt damit Chinas nächste Entwicklungsstufe: den massenhaften Aufbruch vom Land in die Städte. Schon sind, je nach Jahreszeit, zwischen 100 und 200 Millionen Landbewohner unterwegs auf Arbeitssuche in den Metropolen. Man spricht von der größten Völkerwanderung aller Zeiten. Doch das kann nicht verdecken, dass die große Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, etwa 700 Millionen Menschen, weiterhin im Bauernfrieden nach Deng’schem Vorbild verharrt.

Viel hängt davon ab, wie sicher dieser Frieden ist. Zeng Ling, ein Nachbar Chens in Fünf-Glücks-Dorf, hat da seine Zweifel. Bei ihm ist vor wenigen Tagen in den Schweinestall eingebrochen worden. Die Diebe haben Wurst und Schweinsköpfe mitgenommen – alles, was ihm nach dem Schlachten zum Verkauf geblieben war, um das Schulgeld für seine drei Kinder aufzubringen. Zwei Kinder hat Zeng aus eigener Ehe, das dritte ist vom Bruder übernommen. Das zwölfjährige Mädchen soll die Mittelschule besuchen, für die das Schulgeld im Jahr umgerechnet 100 Euro beträgt. Für die Bauern der Gegend, deren Jahreseinkommen auch bei guten Ernten 500 Euro nicht übersteigt, ist das ein Vermögen. Zeng und seine Frau sind verzweifelt: „Der Schulleiter hat uns gesagt, wer kein Geld hat, soll sein Schwein verkaufen. Das haben wir getan, aber die Wurst ist nun weg.“ Ihr Unglück schreiben sie den neuen Zuständen zu: Die Diebe seien aus der Stadt gekommen, wo heute viele arbeitslos seien, weil die staatlichen Fabriken immer weniger Menschen beschäftigen. Es sei schon häufiger passiert, dass Arbeitslose auf dem Land Ware stehlen, die sie bei sich in der Stadt leicht verkaufen können.

„Drei Jahre denken, drei Jahre sparen – so lange braucht eine gute Sache“,ist Bauer Chen überzeugt

Eine zweite Veränderung kommt hinzu: „Die Mittelschule hat neulich Computer gekauft. Da ist das Schulgeld noch mal gestiegen“, berichtet Zeng. Dabei ist er sehr stolz auf seine Adoptivnichte: „Es kommt nur darauf an, wie gut sie in der Schule ist“, sagt der Onkel im zerrissenen Arbeiteranzug, während er das adrett gekleidete Mädchen im Schürzenrock zum Händeschütteln nötigt. Womit der Bauer eine der größten Stärken seines Landes demonstriert: In China wissen heute auch die Armen um den Wert der Erziehung ihrer Kinder.

Doch was nützen den Landchinesen ihre Tugenden – Tüchtigkeit, Bescheidenheit und kluge Vorsorge für den Nachwuchs –, wenn ihnen ganz neue gesellschaftliche Kräfte begegnen. Neben der Kriminalität und den steigenden Ausbildungskosten schlagen auch die Veränderungen im Wirtschaftssystem bis zu den Bauern durch. China ist heute Mitglied der Welthandelsorganisation. Das bedeutet Konkurrenz mit amerikanischen Erzeugern. Zeng Ling lebt auf einem Hügel, wo nicht Reis, sondern Mais geplanzt wird, der in den USA besonders billig ist. Hier versucht die Partei, den Bauern zu helfen. So sorgt der kommunistische Bürgermeister in Fünf-Glücks-Dorf dafür, dass Bauer Chen außer Reis auch Mandarinenbäume und Bauer Zeng außer Mais Pflaumenbäume anpflanzt. Denn Obst aus den USA ist teuer. Doch Zengs Zweifel bleiben: „Die Pflaumen werden alle zur gleichen Zeit reif. Dann fallen die Preise wieder.“

Wie wichtig aber sind für die Pekinger Parteiführung, die auf dem unmittelbar bevorstehenden 16. Parteitag der KP ihr größtes Stühlerücken seit Maos Tod plant, die Pflaumenpreise in der Provinz? Längst regiert sie das Land inmitten blühender Metropolenlandschaften. Trotz steigender Arbeitslosigkeit ist die Euphorie des bis heute anhaltenden Wirtschaftsbooms in fast jeder größeren Stadt auf Anhieb sichtbar.

Die Gemütslage der Bauernmassen hingegen ist schwer zu ergründen. Schon der Weg zu ihnen ist weit: Sechs Stunden braucht der Zug aus der südchinesischen Großstadt Chongqing, bis er Deng Xiaopings Geburtsort Guang’an im sichuanischen Hügelland erreicht. Von dort sind es noch einmal zwei Autostunden und ein guter Fußmarsch bis nach Fünf-Glücks-Dorf. Auf dem Weg dorthin, auf einem Hügel, liegt das Grab von Dengs Mutter. Viele Kilometer weit schaut man von hier ins Land: Kein Flecken ist unbewirtschaftet, kein Steilhang ungenutzt, dicht an dicht stehen Bauernhäuser, beschattet von Zypressen und Bananenstauden. Sichuan gilt den Chinesen nicht umsonst als „Paradies auf Erden“. Doch die historischen Richungsentscheidungen fielen meist in weit entfernten Hauptstädten. Dengs Landreform, die einst hier in der Gegend begann, bildet die eine, große Ausnahme.

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