piwik no script img

Botanisches Gedächtnis

Im Herbarium Hamburgensis der Universität lagern Millionen getrockneter Pflanzen – darunter solche, die längst ausgestorben sind. Das älteste Exemplar stammt noch aus der Zeit Friedrich des Großen. Die Pflanzen sind erstaunlich robust

Zur Bekämpfung von Schädlingen werden die Pflanzen tiefgefroren

von GERNOT KNÖDLER

Hans-Helmut Poppendieck hat einen Pappkarton mit aufgeklebten Pinienzweigen aus dem Regal geholt. „Fällt Ihnen was auf?“ Die graugrünen Nadeln haben schwarze Flecken, was der Reporter unter „Alterungserscheinung“ abbucht, denn das archivierte Stück stammt aus dem Feb- ruar 1951. „Ruß“, sagt Poppendieck. Früher habe die Innenstadt als für Nadelgewächse ungeeignet gegolten, erzählt der Kustos des Herbarium Hamburgensis. Er selbst habe noch in den 60er Jahren Nadeln gefunden, deren Spaltöffnungen von Rußpropfen verschlossen waren. Die Bäume erstickten daran. An den Exponaten im Herbarium des Botanischen Institutes der Universität in Klein Flottbek lässt sich ein Teil der Umweltgeschichte der vergangenen 250 Jahre ablesen.

Auf 1,8 bis zwei Millionen Kartons kleben getrocknete Pflanzen aus aller Welt. Die älteste stammt aus den 1760er Jahren, als Friedrich der Große seine Schlachten schlug. Die älteste Hamburger Pflanze wurde im Jahr 1792 katalogisiert, der Zeit der Französischen Revolution.

„Früher war jede Pflanze aus Übersee etwas Besonderes“, sagt Poppendieck. Deshalb machten sich die Forscher die Mühe, etwa die unscheinbare Sigesbeckia zwischen Löschpapier zu pressen und der Nachwelt zu erhalten. Der Korbblütler, verwandt mit dem Franzosenkraut, ist aus Südamerika gekommen und wurde hier als Zierpflanze angebaut. Heimische Sigesbeckia-Arten gelten heute als Unkraut.

Hamburgs Sammlungen profitierten besonders vom Handel mit Übersee. Poppendieck zufolge, der darüber wissenschaftlich gearbeitet hat, waren es zunächst „gentlemen scientists“, reiche Kaufleute, die als Hobby exotische Pflanzen sammelten. Als sich Deutschland um Kolonien bemühte, gründete Hamburg ein botanisches Museum samt Laboratorium und ließ systematisch erforschen, was ihren Kaufleuten in Übersee begegnete. Da waren bedeutende Sammlungen bereits aus der Stadt weggekauft worden.

Das Herbarium nimmt die beiden unteren Stockwerke des Botanischen Instituts ein und platzt aus allen Nähten. Ein Gitterboden trennt die Stockwerke. Die Mappen mit den getrockneten Pflanzen liegen in schwarzen Schachteln verstaut in grauen Blechspinden. Mehr als 100.000 Arten, schätzt der Kustos, sind hier vertreteten, darunter alle 1300 Pflanzenarten, die in Hamburg wild wachsen, beziehungsweise wuchsen: 230 Arten, etwa das breitblättrige Wollgras, sind mittlerweile in Hamburg nicht mehr zu finden. Poppendieck schätzt, dass er auch einige weltweit ausgestorbene Arten im Archiv hat. Sicher lässt sich das nicht sagen, weil es schwer ist, etwa im Dickicht des brasilianischen Dschungels den Überblick zu behalten.

Fressfeinde haben die Pflanzen selbst in der kontrollierten Umwelt des Herbariums. Bei maximal 18 Grad Celsius und weniger als 30 Prozent Luftfeuchtigkeit halten sie sich zwar gut. Aber der Brotkäfer versucht, sich an den Blüten gütlich zu tun. Poppendieck und seine Mitarbeiter haben sich für ihn Fallen ausgedacht: Auf einem Arbeitstisch steht ein Eimer mit Spüli-Wasser, darüber hängt eine Lampe. Die Käfer fliegen gegen die Glühbirne und fallen in den Eimer, wo sie ertrinken. Aber die Wissenschaftler haben auch noch Profi-Methoden gegen Schädlinge: Die Pflanzen werden routinemäßig tiefgefroren. Die Pflanzen halten das aus, weil sie aus homogenem Material bestehen.

Sie ertragen sogar noch viel mehr – etwa die Prozedur, wenn Exemplare noch bestimmt oder nachbestimmt werden müssen. Dann werden sie mit Wasser aufgekocht, so dass sie sich genau untersuchen und gegebenenfalls mit Skalpell und Pinzette bearbeiten lassen. Danach stecken sie die Botaniker ganz schlicht wieder zwischen zwei Löschblätter. Damit sie für die Nachwelt erhalten bleiben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen