: Ja, ich bin ein bisschen verrückt
Warum man die Welt auch zu zweit nicht erträgt: Ole Christian Madsens Dogma-Film „Kira“ erzählt vom unauflösbaren Leiden eines Ehepaars
Um Kira hat man die ganze Zeit ein wenig Angst. Man befürchtet, sie könnte sich im nächsten Moment danebenbenehmen, zu laut reden oder zu viel, gar nichts mehr sagen oder in sonst ein Extrem verfallen. Im Schwimmbad endet es böse. Zuerst raucht sie unerlaubterweise auf der Mütterbank am Beckenrand. Dann beginnt sie im Wasser mit ihren Kindern zu toben, so laut und wild, dass nach und nach alle anderen Kinder erschrocken das Becken verlassen. Sie selbst wird schließlich von den Badewärtern mit Gewalt herausgeholt. Und dann kommt die Demütigung: Im nassen Badeanzug wird sie festgehalten, bis der Ehemann informiert ist und sie abholen kommt. Mit stumpfer Gleichmut tut Mads das, und an der Gewohnheitsmäßigkeit, mit der er seine Wut im Zaum hält, wird deutlich, dass Kira sich schon lange so benimmt: psychisch instabil. Zu Beginn des Films war sie nach einem längeren Aufenthalt aus der Psychiatrie nach Hause entlassen worden. Nun versucht sie, wieder zu funktionieren.
„Kira“, als Dogma-Film Nummer 7 deklariert, hat wieder genau jene Intensität, auf die sich der Ruhm des dänischen Manifests gründet und die die Qualität der Filme wie „Das Fest“, „Die Idioten“ und „Mifune“ ausmachte. Es ist ein Erzählen, das versucht, keine Ästhetik dazwischenzuschieben, das zu seinen Figuren nicht auf Abstand geht. Manchmal ist das lästig, in „Kira“ jedoch hält es einen ganz nahe an jenem prekären Zustand, in dem sich die Hauptperson befindet.
Als sich einer der Geschäftspartner ihres Mannes beim Essen zu ihr hinüberbeugt und sagt: „Sie sind verrückt“, ist man deshalb zunächst genauso schockiert wie Kira selbst. Aber offen, wie sie ist – denn um zu lügen, braucht es mehr psychische Stabilität –, gibt sie es zu: „Ja, ich bin ein bisschen verrückt.“ Der Mann drückt ihre Hand, mit überschießender Sympathie; sein Sohn sei auch verrückt, total verrückt. Als Zuschauer geht es einem ähnlich: Man wird aus der Reserve gelockt und selbst ein wenig instabil.
Immer wieder heißt es, die Dogma-Regeln bezögen sich nur auf die Form: Gleichzeitigkeit von Bild- und Tonaufnahme, kein Extralicht, keine Extrarequisiten, Handkamera. Es gibt im so genannten Keuschheitsgelübde aber auch zwei inhaltliche Vorgaben: Die Handlung soll in der Gegenwart spielen, und sie soll nicht „oberflächlich“ sein, es darf keinen Mord, keine Waffen geben. Etwas an der Gesamtheit dieser Regeln scheint im Ergebnis immer wieder „Familiengeschichten“ zu produzieren, also Geschichten über Bindungen statt über Beziehungen. In „Kira“ lässt sich beobachten, warum: Die abrupten Wechsel des Bildausschnitts, die Beweglichkeit der Kamera und die Konzentration auf Schauspieler in einer nicht artifiziellen Umgebung machen etwas unterhalb des Verhandelbaren sichtbar, eben die tiefe Bindung zwischen Mads und Kira, die sich durch Worte nicht lösen und kaum beschreiben lässt.
So ist „Kira“ weniger die hinlänglich vertraute Geschichte einer Ehefrau, die im Wohlstandsgefängnis des bürgerlichen Heims verrückt wird – obwohl es diese Ebene im Film auch gibt –, sondern vielmehr die Geschichte eines Paars. Und es ist letztlich die große schauspielerische Genauigkeit von Stine Stengade als Kira und Lars Mikkelsen als Mads, an der sich zeigt, was gute von schlechten Dogma-Filmen unterscheidet. Ihre Inszenierung ist so stimmig und stark, dass sich sowohl die dauernden Lichtwechsel als auch die Sprunghaftigkeit der Kamera ganz ihrem Ausdruck unterordnen. „Kira“ ist ein melancholischer Film, aber, wie das so ist im Kino, auch traurige Gefühle machen den Zuschauer irgendwie froh. Hauptsache, sie sind intensiv.
BARBARA SCHWEIZERHOF
„Kira“, Regie: Ole Christian Madsen. Mit Stine Stengade, Lars Mikkelsen, Sven Wollter u. a., Dänemark 2001, 92 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen