Leichtes Geld, schwer arbeitende Körper

Am Wochenende sind die Hofer Filmtage zu Ende gegangen. Der deutschtürkische Film ist wieder da, bringt aber vor allem Klischees – im besseren Fall solche zweiter Ordnung. Auf die schwierige Frage, wann ein Milieu mehr ist als Kulisse, fand nur Dominik Graf mit „Hotte im Paradies“ eine Antwort

von ANKE LEWEKE

Geschichten aus dem Kölner Kiez, Streifzüge durch den Alltag türkischer Jugendlicher und Studien aus dem großkotzigem Zuhältermilieu in Berlin-Charlottenburg – auf den diesjährigen Hofer Filmtagen hätte man sie antreffen sollen, die viel geforderte deutsche Wirklichkeit im deutschen Kino. Schwer zu sagen, warum das im Katalog verheißungsvoll gegebene Versprechen von Realitätsnähe auf der Leinwand doch nicht eingelöst wurde. Was von fünf Tagen und einer geballten Ladung deutscher Filme bleibt, sind denn auch eher Fragen: Wann ist ein Milieu mehr als nur austauschbare Kulisse? Wie entwickelt man die Dramaturgie eines Films aus den vorgefundenen Lebenswelten, ohne dabei auf abgenutzte Erzählmuster zurückzugreifen?

Einerseits hatte es etwas Erfreuliches, dass die vor ein paar Jahren abrupt von der Bildfläche verschwundenen deutschtürkischen Filme in diesem Jahr einige Nachfolger fanden, andererseits ist die Ungeduld des Zuschauers bei einem Film wie Neco Celiks Regiedebüt „Alltag“ fast schon in der Dramaturgie angelegt. Nicht etwa weil man ausländische Jugendliche auf kriminellen Abwegen schon zu häufig gesehen hat, sondern weil Celik die Stereotypen und Versatzstücke eines jeden TV-Movies in eine Kreuzberger Kiezstraße presst und als Wirklichkeit behauptet. Der süße Deutsche, die wunderschöne türkische Gangsterbraut, ein ultraharter Kleinganove und ein speckbäuchiger Narr, der mit krassen Sprüchen für die Witze sorgt. Tarantino grüßt mit der Pumpgun, und Berlin-Kreuzberg wird zum gemeingefährlichen Pflaster. Der Gang zum Gemüsehändler wäre hier zu banal – von wegen Alltag.

Dabei ist gegen Klischees zunächst mal gar nichts einzuwenden: Auch in Sinan Akkus’ Kurzfilm „Lassie“ spielen Schnellfeuerwaffen, cooler Look und machohafte Gesten eine wesentliche Rolle, doch hier sind es eher Klischees zweiten Grades. Übermütig wird das Vorurteil vom kriminellen Türken im langen Ledermantel und mit sorgfältig rasiertem Bärtchen in die Vitrine gestellt und mal eben dekonstruiert. Nicht der Regisseur, seine drei Vorstadtganoven haben den eigenen Tarantino im Kopf.

Weil der Alltag in Köln-Ehrenfeld so grau ist, sind es auch die Bilder in Kadir Sözens „Gott ist tot“. Den lieben langen Tag schraubt Götz George als Sozialhilfeempfänger Heinrich an seinem Wohnmobil herum, mit dem er eines Tages nach Italien fahren will. Bis dahin versorgt ihn die gute Seele von Metzgersfrau mit Linsensuppe und selbst gemachten Würstchen. Warum in diesem Film alles, aber auch alles den Bach runtergehen muss und Heinrichs ältester Sohn unweigerlich auf die schiefe Bahn gerät, scheint weniger zu interessieren als Georges vor sich hin krächzende Darstellung des kleinen Manns, der nicht weiß, was nun. Vielleicht mag da ein Herzinfakt eine ganz natürliche Reaktion auf die Ungerechtigkeit dieser Welt sein. Muss man ihn aber deshalb gleich als Schwindel erregende 360-Grad-Kreisfahrt darstellen?

Viel zu selten gelang den in Hof gezeigten Filmen die Verbindung zwischen einer Wirklichkeit und den Mitteln des Kinos. Dass man Dramaturgie und Form aber tatsächlich aus den Gesetzmäßigkeiten und Regeln eines Milieus ableiten kann, zeigte Dominik Graf mit seinem neuen Film „Hotte im Paradies“, der von einem Berliner Zuhälter handelt. Dicke Rolexuhren und hochkarätige Ringe, nicht endenwollende Kokslines und permanent fließender Champagner, flotte Cabrios und gebündelte Geldscheine, die die Hosentaschen noch praller erscheinen lassen: Das schaffte einen glamourösen Auftakt wie in Scorseses „Casino“, und doch bleibt man mittenmang im Milieu, weil Graf sich ganz auf die Zeichen und Verhaltensweisen des Charlottenburger Rotlichtviertels einlässt. Nicht durch Exotik, vielmehr durch die Ökonomie von leichtem Geld und schwer arbeitenden Körpern findet hier die Annäherung an ein nicht allzu bekanntes Terrain statt.

Prostituierte, die nicht mehr wollen und sich mühsam freikaufen oder für ein paar Scheine mal eben den Besitzer wechseln, brachiale Geldeintreibungsmethoden und stete Gewaltbereitschaft – höchstwahrscheinlich ist Graf der einzige deutsche Regisseur, der zwanzig Schauspieler in eine Kneipe stopfen kann, ohne dass auch nur der Hauch eines Zweifels daran entsteht, dass es sich um Nutten und ihre Zuhälter handelt. Und auch wenn die Geschichte zwangsläufig in Gewalt eskaliert, bleibt diese Gewalt einfach klein, niedrig, schäbig. „Hotte im Paradies“ ist eine digital gedrehte Fernsehproduktion. Bei der Hofer Vorführung sah das Berliner Umland wie eine Fototapete aus. Dennoch ist Graf einer der wenigen im deutschen Kino, der unermüdlich die Errettung der Wirklichkeit betreibt. Auf einem Festival, das keine größeren Preise vergibt, hätte man ihm dafür am liebsten eine Bratwurst gekauft.