: Keine einfachen Wege zu guten Zielen
Richard Sennett ist in einer Armensiedlung aufgewachsen. Dank dieser Erfahrung hat er ein anregendes Buch über „Respekt“ und „Ungleichheit“ verfasst
von WARNFRIED DETTLING
Der Soziologe Richard Sennett hat einmal mehr ein wichtiges und diesmal auch ein recht persönliches Buch geschrieben. Genau betrachtet sind es, geschickt verwoben, drei in einem: ein sozialwissenschaftliches Traktat über Respekt in einer Welt der Ungleichheit. Die Erinnerungen an ein Leben, das zum Exempel für sozialen Aufstieg und damit auch Ungleichheit wurde – Sennett wuchs in einem sozialen Brennpunkt in Chicago auf, hatte eine viel versprechende Karriere als Cellist vor sich, bis eine missglückte Handoperation sie im Alter von zwanzig Jahren jäh beendete; schließlich studierte er in Harvard und wurde zu einem weltweit respektierten Wissenschaftler und Schriftsteller.
Nicht zuletzt ist es jedoch das engagierte Buch eines 60er-Jahre-Linken, der an seinen Werten und seinem Engagement festhält, aber mit der Zeit skeptisch geworden ist, was die einfachen Wege zu den guten Zielen betrifft. Ein differenziertes und ebendeshalb anregendes Buch also, aber sicher kein Bestseller wie zuvor „Der flexible Mensch“, dessen konsequente Kritik des digitalen Kapitalismus die einen bewundern und die anderen ablehnen konnten. So einfach liegen die Dinge hier zum Glück nicht. Der Ton ist durchweg skeptisch, der Autor oft einfach ratlos. Entschädigt wird der Leser nicht nur durch allerlei überraschende Einsichten und Perspektiven, sondern auch durch eine angenehme Lektüre, deren Reiz aus der Leichtigkeit kommt, mit der sie sich zwischen theoretischer Reflexion, anschaulicher Erinnerung und erlebter Zeitgenossenschaft hin und her bewegt.
Das Thema des Buches ist auch das Thema seines Lebens: „Ich hatte keineswegs den Respekt gegenüber denjenigen verloren, die ich hinter mir gelassen hatte, aber andererseits ergab sich mein Selbstwertgefühl gerade aus der Art und Weise, wie ich sie zurückgelassen hatte.“ Als Dreijähriger zieht Sennett mit seiner Mutter, einer späteren Sozialarbeiterin, nach Cabrini Green. Diese ethnisch gemischte Enklave des sozialen Wohnungsbaus sollte die zwei sozialen Hauptübel jener Zeit bekämpfen: die Ungleichheit und Diskriminierung, die aus der Klasse und aus der Rasse kommen. Die Anlage war Ausdruck des Glaubens von Sozialplanern, einem sozialen Missstand allein „mit den Mitteln der Sozialpolitik“ beikommen zu können. „Die Zukunft schien hell“, erinnert sich der Autor, aber auch daran, wie „die Siedlung die Menschen zu einer sozialen Passivität verurteilte, unter der ihre Selbstachtung litt.“ Als er dann 1959 mit seiner Mutter das einstige Musterprojekt wieder einmal besuchte, war die Siedlung sozial verwahrlost – und kein Weißer mehr da. In den 70er-Jahren traute er sich nur noch tagsüber, mit dem Auto durchzufahren.
Was war schief gelaufen, nicht nur in Cabrini Green? Wir erfahren es nicht so ganz genau. „Menschen werden nicht schon deshalb mit Respekt behandelt, weil man das so befiehlt. Gegenseitige Anerkennung muss ausgehandelt werden.“ Man mag das Buch nicht einmal kritisieren, da es darauf verzichtet, andere, bessere „Maßnahmen“ vorzuschlagen. Wenn es zu einem anderen Verständnis des Sozialen und des Sozialstaats beiträgt, als es die Ingenieure des Sozialstaats haben, dann hat es schon viel erreicht. Auf der anderen Seite liegt hierin eine Schwäche des Buchs: Es deutet nicht einmal an, wie man die Fehler mancher von ihm kritisierter „Reformen“ vermeiden könnte.
Dafür arbeitet der Autor um so klarer das grundsätzliche Dilemma heraus. Sozialdemokratische und andere Reformer erinnert er: „Sozialhilfeempfänger klagen oft, sie würden mit zu wenig Respekt behandelt. Doch der Mangel an Respekt, unter dem sie leiden, hat seinen Grund nicht allein in der Tatsache, dass sie arm, alt oder krank sind.“ Sennett war und ist ein Kritiker von Ungleichheiten, die ihren Ursprung nicht in individuellen Unterschieden, sondern in der sozialen Organisation haben. Aber er hält es für „psychologisch naiv“, zu glauben, „wenn sich in den materiellen Bedingungen Gleichheit herstellen ließe, werde sich ein wechselseitig respektvolles Verhalten spontan und gleichsam natürlich einstellen“.
Es sind andere Fragen, die ihn bewegen: Wie kann man die Grenzen der Ungleichheit in wechselseitigem Respekt überschreiten? Wie können Ungleiche miteinander reden? Wie kommen Menschen, wie kommt eine Gesellschaft aus dem Teufelskreis heraus, aus jenem „Nullsummenspiel des Respektes“, bei dem die einen den anderen (die Weißen den Schwarzen, die Starken den Schwachen) den Respekt verweigern, um den eigenen Wert hervorzuheben? Wie ist Respekt trotz Ungleichheit möglich?
Auf der Suche nach Antworten entdeckt er den anderen, den vergessenen John Maynard Keynes, der nur als Begründer einer aktiven Wirtschaftspolitik in Erinnerung geblieben ist. Sennett kehrt immer wieder zu dessen sozialem Kernthema zurück: Wie ist es möglich, die Klienten des Sozialstaats als bedürftige Menschen zu behandeln und zugleich ihre Autonomie zu respektieren? Mit Keynes sucht er nach einer demokratischen Form von Abhängigkeit: „Wie man innerhalb der Abhängigkeit für Autonomie sorgen konnte, war das große bürokratische Dilemma, vor dem die sozialdemokratischen Schöpfer des Sozialstaates standen.“ Bloße Geldüberweisungen sind weder für Keynes noch für Sennett eine Lösung.
Das ist für beide kein Plädoyer für Kürzungen, aber doch ein anderer Blick auf die sozialen Fragen. Einen frischen Blick richtet Sennett auch auf die Revolte seiner Generation gegen die „fertigen Rezepte“ der Älteren für Leben, Lieben und Arbeiten: „Wir hofften, durch die Auflösung fest gefügter bürokratischer Strukturen stärkere soziale Bindungen zwischen den Menschen herstellen zu können. Wir glaubten an Improvisation, an soziale Beziehungen, die eher dem Jazz als der klassischen Musik ähnelten. Doch am Ende brachte der soziale Jazz kein höheres Maß an Umgänglichkeit.“
Richard Sennett: „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“. Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff, 344 Seiten, Berlin Verlag, Berlin 2002, 19,90 €
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