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Dumpfe Ängste à la fünfte Kolonne

betr.: „Einmal Türke, immer Türke“, taz vom 23. 10. 02

Diese einseitige Betrachtung birgt die Gefahr, die Mehrheit der Migranten aus der Türkei als „Nationalisten“ abzustempeln. Trotz einer ganzen Menge Wahrheit in Bezug auf die türkische Presse, vermisse ich bei diesem Beitrag eine konstruktive Kritik. Die Autorin hätte zum Beispiel in diesem Zusammenhang auch die Frage stellen sollen, warum solche Zeitungen von den Deutschtürken angenommen werden. Inwieweit haben die Medien in Deutschland bisher die Migranten überhaupt berücksichtigt? Warum fühlen sich nach 40 Jahren Aufenthalt in Deutschland viele Deutschtürken immer noch nicht als vollständige Bürger dieses Landes?

Warum ist die Integration der Migranten seit Beginn der 60er-Jahre in Deutschland gescheitert? War überhaupt die Integration dieser Menschen erwünscht? Könnte es sein, dass der Begriff Integration mit vollständiger Assimilation verwechselt wird? Wie hätten die Gastarbeiter der ersten Generation, die Jahre lang in Deutschland Schwerstarbeit geleistet haben, ohne Hilfe besser Deutsch lernen sollen? Meint die Autorin, dass der muttersprachliche Unterricht wirklich unnötig ist? Wie sollen Kinder, die zu Hause ihre eigene Muttersprache falsch sprechen, überhaupt korrekt Deutsch lernen? Wem nutzt diese „doppelte Sprachlosigkeit“? Inwieweit ist der Grundsatz der Gleichstellung, Gleichbehandlung und Verwirklichung der Rechte dieser Menschen als kulturelle Minderheit in allen rechtlichen, sozialen, politischen, ökonomischen Bereichen in unserem Land realisiert worden?

Unverhohlene Meinungsmache lesen wir auch in manchen Zeitungen in unserem Land tagtäglich. Es wird meist über die Migranten geredet, aber selten mit den Migranten. Man darf eins nicht vergessen: Es war die in diesem Artikel erwähnte große deutsche Partei, die das Migrantenproblem zum Wahlkampfthema gemacht hat. Ich persönlich sehe gewisse Parallelen zwischen der türkischen Boulevardpresse und der deutschen Boulevardpresse. Die Befürworter für den EU-Beitritt der Türkei kommen übrigens eher aus demokratischen Kreisen, während sich Nationalisten und Fundamentalisten eher dagegen aussprechen. Der Vorwurf des Nationalismus als oberflächliches Erklärungsmuster ist aus meiner Sicht eine unzulässige Vereinfachung. Als langjähriger Befürworter der Integration in Deutschland finde ich solche Verallgemeinerungen kontraproduktiv. F. CERCI, Detmold

Warum ist es türkischen Zeitungen wie Hürriyet, Milliyet usw. zu verübeln, dass sie die deutschen Wahlen unter dem Gesichtspunkt türkischer Interessen betrachten und verfolgen? Warum ist es so schlimm, wenn türkische Zeitungen türkisch-deutsche Wähler zur Wahl solcher Parteien auffordern, die sich für den Beitritt der Türkei zur EU einsetzen? Warum ist es so schlimm, wenn türkische Zeitungen Lobbyarbeit unter den LeserInnen der EU (!) betreiben, die sie erreichen können (es gibt wahrlich Schlimmeres!)?

Die Perspektive mag etwas eng sein, aber was soll daran überraschend sein, wenn türkische – auch nationalistische – Medien jenes Einfallstor nutzen, das ihnen eine integrationsfeindliche, die türkischen Migrantinnen und Migranten über Jahrzehnte hinweg ausgrenzende und diskriminierende deutsche Politik doch erst geöffnet hat? Wenn die Immigranten die Stimmen aus dem Herkunftsland nach so vielen Jahren wirklich noch so ernst nehmen (sollten), wie Sie es darstellen, dann stellt sich doch die Frage, warum des Aufnahmeland sie nicht für sich gewonnen hat?

Sie wissen es doch auch: Wenn diese Presse heute wirklich noch einen so großen Einfluss ausüben sollte, wie Sie suggerieren (meine Erfahrungen bestätigen das nicht), so liegt dies primär an der kleinkarierten, kontraproduktiven (eben!) deutschen Einwanderungs-Verhinderungspolitik. Dass Sie mit Ihrem Artikel aber auch noch jene dumpfen Ängste à la 5. Kolonne schüren – das ist integrationsfeindlich und der taz unwürdig.

DIETER SCHIMANG, Frankfurt am Main

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