piwik no script img

Eisschollen aus dem Atelier

Schillerndes Wechselspiel zwischen religiös überhöhter und streng naturwissenschaftlich ausgerichteter Landschaftsdarstellung: Kunsthallen-Ausstellung über eine Debatte um 1800

von HAJO SCHIFFf

Ein Bergkristall und ein Relief des Tales von Chamonix mit dem Montblanc, historische Geräte aus dem 18. und 19. Jahrhundert wie Fernrohr, Sextant und ein Theodolit genanntes Vermessungsgerät finden sich derzeit in der Kuppelrotunde der Hamburger Kunsthalle. Mit solchen sich durch die ganze Ausstellung ziehenden Anleihen bei den Mineralogen und Geometern wird der veränderte Blick klar, mit dem Kunsthallen-Direktor Uwe M. Schneede an ein Thema herangeht, das einen Schwerpunkt in der Arbeit seines Vorgängers Werner Hofmann bildete: Kunst um 1800.

Die Ausstellung Expedition Kunst. Die Entdeckung der Natur von C. D. Friedrich bis Humboldt macht es leicht, in Landschaftspanoramen von Norwegen bis Italien, von der Schweiz bis nach Südamerika schwelgerisch einzutauchen oder sich in einem eigens eingerichteten, umfangreichen „Wolkenkabinett“ zwischen Traumbild, Pinselstrich und meteorologischer Bestimmung mit der Formensprache des Ungeformten vertraut zu machen.

Die eigentlich kunstwissenschaftliche Neubewertung dieser Ausstellung mit über 220 Exponaten steckt aber in der besonders intensiven Reflexion der engen Wechselwirkung von Naturwissenschaft und Kunst. Eisschollen und Palmen, Wolken und Basaltformationen: Was dem heutigen Betrachter so ruhig gemalt und romantisch verklärt erscheint, zeigte einst den aktuellsten Stand naturwissenschaftlicher Entdeckungen.

Anhand des Werks von Carl Gustav Carus, dessen Bilder oft als denen Caspar David Friedrichs höchst ähnlich galten, wird dies besonders deutlich: Dieser Maler war zugleich Arzt und Naturforscher und wurde von Goethe wegen seiner „Erdlebenbildkunst“ sehr geschätzt. Der in vielem bewanderte Weimarer Dichter, der unter anderem nach über „Urpflanze“ und Wolkenformationen forschte und dichtete, schätzte Caspar David Friedrich dagegen nur wenig. Denn der baute seine scheinbar so natürlichen Landschaften im Atelier zusammen und durchtränkte sie mit religiöser Symbolik. Andererseits wurden Friedrichs Vorstudien zu den Eisschollen seines Bildes Das Eismeer - Die gescheiterte Hoffnung im wissenschaftlichen Unterricht verwendet. Denn nicht nur die Kunst wollte die Welt „richtig“ erfassen, auch die Wissenschaft brauchte für ihre neuen Forschungsgebiete in großen Höhen und fernen Weiten eine Veranschaulichung.

In diesem Wechselspiel beider Bereiche entwickelte sich die künstlerischen Überhöhung, die etwa bei Joseph Anton Koch zum Bild Urteil des Paris mit dem Schmadribachfall von 1794 führte, später die trockene Beobachterhaltung eines John Ruskin: 1848 lautet ein Bildtitel lapidar diesseitig Frühlingsmorgen mit Nordostwind, Vevay. Doch der Prozess der Rationalisierung birgt auch Widersprüche und versteckte Komik: Da führt die Suche nach dem Wesen der Dinge zu fast surrealen Interpretationen nicht nur bei Eis, Wasser und Wolkenformen: Auch ein Blick aus der Vogelperspektive auf den Vulkan Monte Rosso bei Nicolosi wirkt wie eine surrealistische Maske. Und der an den Schweizer Alpen geschulte Blick erfasst auch die Berge Südamerikas als in sich wenig differenzierte Serie. Schließlich wird das wissenschaftlich gemeinte, generalisierende Urwaldbild gar zum dekorativen Erfolg im Salon.

John Constable, dessen Reisemalkasten am Beginn der Ausstellung zu sehen ist, sagte 1836, Malerei bedeute im Grunde die Erfassung von Naturgesetzen. Zu diesem Zeitpunkt war Caspar David Friedrich, der Maler religiös überhöhter Naturkompositionen, schon schwer krank. Und ist Naturwissenschaft nicht bloß eine andere Religion?

Expedition Kunst – Die Entdeckung der Natur von C. D. Friedrich bis Humboldt, Kunsthalle, Glockengießerwall; bis 23. Februar 2003; Katalog 23 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen