Das Ranken der Strünke

Was ist eigentlich die Avocado für eine merkwürdig fettige Wucherpflanze?

Der spargelige Trieb wächst und wächst, jahrelang, wird größer, dicker, hässlicher

Avocados sind seltsame Gegenstände, die das menschliche Verhalten auf vielfältige Weise beeinflussen und zu höchst irrationalen Vorgehensweisen verleiten können.

Zunächst ist ungeklärt, um welche Form vitaler Entität es sich bei der Avocado handelt. Der Fremdwörterduden von 1960 schreibt „Avocato“ – offenbar war damals noch unbekannt, welch sämige Konsistenz der Inhalt der tiefgrünen Schale annehmen kann. Immerhin: da ist ein Kern – eine Frucht also, die der Volksmund nicht umsonst „Eierfrucht“ nennt, denn in der Tat besteht das fettige Mus aus Mayonnaise minus Senf und Essig. Laut Lexikon soll diese grüne Schleimkugel „bis zu 25 Prozent Fett enthalten“ und angeblich „zu den gesunden Fettspendern“ zählen, was mit dem Konzept pflanzlicher Früchte, wie wir sie kennen, doch recht wenig zu tun hat.

Verbuchen wir das notdürftig unter „Dinge, die man quirlen kann“ und wenden wir uns dem Kern zu, der, einmal freigelegt, hypnotische Wirkungen entfaltet: Wer ihn in der Hand hält, beginnt meist umgehend die Suche nach Zahnstochern. Die bohrt man in das ovale Ding hinein, hängt das ganze Mobile in ein Glas Wasser und erzeugt so innerhalb weniger Wochen ein betörend stinkendes Ensemble aus Schimmel, Seim und Fäule, dessen Zweck (ebenso wie der der vorhergehenden Handlungen) bis heute völlig im Dunkeln liegt.

Besonnenere Zeitgenossen und solche, die den Vorgang bereits mehrfach hinter sich gebracht haben, werfen den Kern einfach weg – manchmal in Blumentöpfe oder andere Erdansammlungen hinein, wo sich dann innerhalb kurzer Zeit ein spargeliger Trieb bildet, den wir als Warnung verstehen sollten: Hinfort mit dem Übel, ehe es zu spät ist! Leider gelingt die Trennung allzu selten. Es kommt, was kommen muss: ein Baum. Der wächst und wächst, jahrelang, wird größer, dicker, hässlicher. Die Blätter, die unter günstigen Lichtbedingungen den Umfang einer halben Küchenzeile erreichen, rotten gelb und braun vor sich hin, fallen als pergamentene Dachziegel in der Gegend herum; Nachwuchs sprießt aus allen Narben, wuchsgeile Äste recken sich bedrohlich in Zimmer und – notgedrungen – Hinterhöfe hinein. Dort sieht man dann immer wieder Hausmeister mit seltsamem Schimmern in den Augen herumschleichen, die Schnappschere vorgestreckt, um das wirre Kraut abzuzwicken; aber inzwischen hat sich beim Besitzer ein Fürsorgeverhalten ausgebildet, das mit den optischen Vorzügen der ragenden Krummpflanze nicht zu erklären ist.

Mit den sonstigen schon gar nicht, denn diese gibt es nicht – sieht man davon ab, dass der winterliche Umzug des inzwischen zum einbeinigen Wald herangewachsenen Strunks den Wohnungsinhaber zwingt, auf Fernsehen und die Ladung von Gästen zu verzichten. Derart vereinsamt kniet er in stillen Stunden vor seiner Pflanze, sieht den Blättern beim Bräunen zu und erwartet, was nie kommt: Blüte und Reifung von Früchten. Selbst in Extremfällen – bekannt ist der Fall eines Avocadobaums im Münchner Norden, der bereits seit einem guten Jahrzehnt vor sich hin wuchert, die Höhe eines Basketballspielers und den Umfang von Ottfried Fischer erreicht und mehrere Töpfe gesprengt hat – kommt es nie zu dem, was aus menschlicher Sicht der Sinn der Pflanzenzucht ist.

Aus alldem ergibt sich nur ein zwingender Schluss: Avocados wachsen nicht auf Bäumen. Vielleicht werden sie gelegt, von einer lateinamerikanischen Abform des zausigen Pesthuhns. Vielleicht wäre es sinnvoller, Schlangeneier zu vergraben und auf die Ausbildung von Pilzen zu warten, wenn man schon unbedingt Avocados haben will.

MICHAEL SAILER