: Kritik an der Version des Kreml
Beim Tschetschenien-Kongress in Kopenhagen erhebt Tschetscheniens Exilvizepräsident Sakajew in Zusammenhang mit dem Geiseldrama schwere Vorwürfe gegen Moskau
KOPENHAGEN taz ■ Das blutige Ende des Geiseldramas in Moskau hätte verhindert werden können. Doch Moskau wollte das nicht. Das behauptet der tschetschenische Exilvizepräsident Achmed Sakajew. Auf dem „Tschetschenischen Weltkongress“, der trotz heftiger Proteste Moskaus am Montag und Dienstag in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen stattfand, hatte Sakajew eine ganz andere als die bislang bekannte Version der Vorgänge in Moskau: „Die Geiseln sollten am Samstagmorgen um 11 Uhr freigelassen werden, unabhängig vom Resultat der Verhandlungen mit Putins Vermittler Viktor Kasantsew.“ Dies sei in einem Telefongespräch vereinbart worden, welches der tschetschenische Expräsident Selimchan Jandarbajew am Freitagabend mit dem Anführer der Geiselnehmer, Mowsar Barajew, geführt habe. „Es kann keinen Zweifel daran geben, dass die russischen Sicherheitsbehörden dieses Telefongespräch abgehört haben. Sie wussten also von den Absichten der Geiselnehmer“, sagte Sakajew.
Seine Informationen will Sakajew, der in Kopenhagen als „Beauftragter“ des tschetschenischen Exilpräsidenten Aslan Maschadow auftrat, direkt von Jandarbajew erhalten haben. Das von Moskau behauptete Ultimatum der Geiselnehmer, ab Samstag 6 Uhr mit der Erschießung von Geiseln zu beginnen, habe es „nie gegeben“: „Das Gerücht von einem Ultimatum wurde vom russischen Militär unmittelbar nach Beendigung des Telefonkontakts mit Jandarbajew verbreitet. Es war eine Lüge.“ Die Geiselnehmer hätten kein Blutbad gewollt: „Wenn doch, hätten sie trotz der Wirkung des Gases die Sprengladungen in einer Sekunde auslösen können.“
Das seit Monaten geplante Treffen von rund 120 Exiltschetschenen ist durch die Vorgänge in Moskau plötzlich ins Zentrum des Interesses gerückt. Vor dem Hotel und in der Lobby patrouillieren uniformierte Polizisten, vor dem Konferenzraum zeigen Sicherheitskräfte Präsenz. Die offizielle Teilnehmerliste scheint überholt, doch haben sich neben Gästen wie der britischen Schauspielerin Vanessa Redgrave und Litauens Expräsident Vytautas Landsbergis vor allem Repräsentanten verschiedener tschetschenischer Exilorganisationen, Parlamentarier und Diplomaten versammelt.
Von vornherein geplant war, den Kongress – neben einer Aufforderung an den Westen, den Krieg im Kaukasus und die dortigen Menschenrechtsverletzungen nicht länger zu ignorieren – mit einem Appell zu Friedensverhandlungen abzuschließen. Zur Eröffnung wurde jeder Terror, „egal von welcher Seite“, verurteilt. Doch mehrere Teilnehmer gaben ihrer Meinung Ausdruck, dass es zu weiteren Aktionen, wie solchen in Moskau, kommen könne. „Auch“, so Sakajew, „auf fremdem Territorium.“ Der Expräsident der russischen Duma, Ruslan Chasbulatow, sprach von der Geiselaktion als einer „politischen Handlung“: „Es war nicht die Tat einer Handvoll von Kriminellen. Es wurden nur politische Forderungen gestellt.“ Und: „Wenn der Krieg nicht gestoppt wird, werden andere kommen, die gleiche oder ähnliche Methoden wählen.“
Ein Kongressteilnehmer, welcher die Tschetschenen dringend warnte, „nicht in diese Falle“ zu gehen, war Landsbergis, einer der führenden Persönlichkeiten der Unabhängigkeitsbewegung Litauens. Abgesehen von geografischen Unterschieden sei der wichtigste Gegensatz beider Unabhängigkeitsbewegungen, dass in Litauen eine einige Bewegung existierte, die nie auf Terror und Gewalt gesetzt habe. Diesen Weg müsse Tschetschenien auch versuchen, was nur gelinge, „wenn Europa sich nicht länger vor der Verantwortung drückt und erkennt, dass Tschetschenien zu Europa gehört“. Doch was das angeht, gibt es bei den meisten Beobachtern keinen Grund zu Optimismus. Zwar sagte die dänische Regierung den Kongress nicht ab, verlegte jedoch ein EU-Treffen mit Putin von Kopenhagen nach Brüssel. „Der Westen hat dem russischen Druck nachgegeben“, sagte Holger K. Nielsen, Vorsitzender der oppositionellen dänischen Volkssozialisten. „Kann man da anderes als eine noch heftigere militärische Reaktion Moskaus erwarten?“
REINHARD WOLFF
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen