: Verschiedene Universen
Das von Kampnagel initiierte C.H.A.T.-Jugendtanzprojekt des Kolumbianers Alvaro Restrepo und der Französin Marie-France Delieuvin provoziert vielfältige Erkundungen unbekannten Terrains
von MARGA WOLFF
Ritual, Metamorphose, Wut sind die Motive, die Alvaro Restrepo den Studenten mit auf den Weg gibt, auf eine Reise, die für einige der jungen Tänzer hier die Erkundung bislang unbekannten Terrains bedeutet.
Yorneys Chiquillo zum Beispiel hat sich ein orange farbenes Hemd angezogen. Nun wartet er, bis Ruhe eingekehrt ist. In der Hand hält er einen Holzrahmen. Sein Blick wandert über den schwarzen Tanzteppich, den er eben noch mit 47 Kollegen teilte. Jetzt gehört der Raum ihm ganz allein. Ein tiefes Durchatmen, die ersten Schritte wirken noch ein wenig verkrampft. Dann löst sich die Spannung. Er springt in den Rahmen, spricht, während er sich bewegt, einen Text in spanischer Sprache. Seine Arme durchschneiden die Diagonalen; er macht ein paar flinke Wendungen, eine letzte Drehung, hält inne – und schon schlägt ihm tosender Beifall entgegen. Johlend und klatschend drücken die Tanzstudenten aus aller Welt ihre Anerkennung für ihren 15-jährigen Kollegen aus Kolumbien aus. An diesem Nachmittag zeigen sich die Teilnehmer des Jugendtanzprojekts C.H.A.T. zum ersten Mal gegenseitig ihre kurzen Solostücke, die sie seit Beginn der Werkstatt auf Kampnagel erarbeitet haben. Bewegung, Stimme und der Umgang mit Requisiten fließen da zusammen.
Als nächstes ist Afrika an der Reihe. Die zierliche, ernste Spanierin, die im französischen Angers ihre Tanzausbildung absolviert, hat ein fast schon minimalistisches Tanzgedicht kreiert. Es folgen Anna aus Hamburg, unverkennbar eine Ballettelevin an John Neumeiers Schule, und Fabian, Student im Year-of -Performance an der Hamburger Lola-Rogge-Schule, der mit 24 Jahren zu den ältesten hier zählt. Auch Alvaro Restrepo ist begeistert „von den verschiedenen Universen“, die es zu sehen gibt. Bei den Abschlusspräsentationen vom 31. Oktober bis zum 3. November werden diese sich schließlich zu einem gemeinsamen Stück fügen.
Restrepo, der in Hamburg durch seine poetischen Tanzrituale bekannte und beliebte Choreograf und Tänzer aus Kolumbien, leitet zusammen mit der französischen Choreografin und Tänzerin Marie-France Delieuvin dieses ambitionierte, von Kampnagel initiierte Projekt. Beide sind zudem Direktoren von Tanzinstituten – Restrepo vom Colegio del Cuerpo in Cartagena, Delieuvin vom Centre Nationale de Danse Contemporain in Angers und – reisten mit jeweils einer ihrer Klassen an. 15 weitere angehende Tänzer sind aus Hamburg dazugekommen.
C.H.A.T. benennt ein in künstlerischer sowie in kultureller Hinsicht einzigartiges Tanzausbildungsprojekt. „C“ steht für Cartagena, „H“ Für Hamburg, „A“ für Angers. Das „T“, ursprünglich für Tunesien, konnte nicht besetzt werden. Dafür umspannt die Internationalität der Schule von Angers mit Studenten aus Madagaskar, Vietnam, Israel und Costa Rica einmal den ganzen Erdball. Für Marie-France Delieuvin ist diese kulturelle Vielfalt Programm: „Wenn wir heute die Frage stellen, was der zeitgenössische Tanz ist, dann müssen wir uns von akademischen Kategorien verabschieden.“ Tanz gebe es schließlich überall auf der Welt. Der afrikanische Tanz habe da die gleiche Berechtigung wie das Ballett. „Das müssen wir akzeptieren und unsere Methoden entsprechend ändern“, betont sie. Abgesehen davon, fügt sie hinzu, interessiere es sie, wie der Tanz sich unter anderen Bedingungen, beispielsweise auch unter denen eines Krieges, entwickle.
Alvaro Restrepo kennt diese Bedingungen nur zu gut. In seinem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land gründete er vor fünf Jahren die Tanzschule Colegio del Cuerpofür die Kinder der Ärmsten der Armen. Ihnen Würde und Selbstachtung zurückzugeben, darum geht es ihm. „Oberstes Gebot ist für mich, meine Schüler niemals wie Kinder zu behandeln“, erklärt er. Finanziert wird die Schule von der UNESCO und von der Weltbank. „Die Jugendlichen, die mit nach Hamburg gekommen sind, sind von Anfang an dabei. Ich nenne sie meine experimentelle Pilotgruppe“, erzählt Restrepo.
Alberto Barius, ein früherer HipHop-Tänzer, gehört dazu. Den ganzen Nachmittag hatte der 15-Jährige in einer stillen Ecke geprobt. Jetzt, nachdem er es geschafft hat, strahlt er, wie all die anderen jungen Tänzer auch, die Restrepo nach diesem konzentrierten Arbeitstag in französischer, spanischer und englischer Sprache zum Abendessen in die Kantine entlässt.
Präsentationen der Schulen del Colegio del Cuerpo/Kolumbien und Centre National de Danse Contemporain/Anger: 31. Oktober, 19 KUhr, Kampnagel, k6. C.H.A.T.-Uraufführung mit Jugendlichen aus Kolumbien, Frankreich u. Hamburg: 1.–3. November, 19 Uhr, k6
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