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Doktor Chicago

Der Musikjournalist John Corbett leitet in diesem Jahr das JazzFest Berlin. Von seiner Ernennung erfuhr er erst über Glückwunschmails seiner Freunde

von MAXI SICKERT

Der Jazzmusiker als Maler – ein poetisches Bild. George Wettlings „Selbstportrait mit Trommelstöcken“ fängt das Gefühl des Jazz ein: gebrochene Rhythmen, sich überlagernde Melodielinien, das Hören, Sehen und Spüren. Es hängt dieser Tagen überall in der Stadt, als Plakatmotiv des diesjährigen JazzFests. Wettling spielte seit Ende der 20er-Jahre mit Coleman Hawkins und Jack Teagarden, später mit Louis Armstrong, Billie Holiday und Ella Fitzgerald. Unter den malenden Jazz-Schlagzeugern ist er nicht allein: Der Franzose Daniel Humair hat unter „drummerworld.com“ eine ganze Website erstellt. Wettling steht aber auch für Chicago. So wie John Corbett, der das diesjährige Programm konzipiert hat. Auch wenn es, wie er immer wieder betont, kein Chicago-Festival sein soll.

Der 39-jährige Corbett ist vor allem durch sein journalistisches Engagement in der Chicagoer Jazz-Zeitschrift Down Beat bekannt. Daneben schreibt er für die Chicago Sun Times und den Chicago Reader, und neben inzwischen über 100 Liner Notes erscheint in Kürze sein zweites Buch „Microgrooves: further forays into other music“. Das erste, „Extended play: Sounding off from John Cage to Dr. Funkenstein“, kam 1994 heraus, dem Jahr seines Doktortitels. Seitdem unterrichtet er am Art Institute of Chicago Musik- und Kunstgeschichte, teils gemeinsam mit seiner Frau Terri Kapsalis, in den Bereichen Postminimalismus und Konzeptkunst.

Seine musikalische Sozialisation komme vom Punk, daher auch sein Interesse für marginale Musik, so Corbett. 1984 veranstaltet der 21-Jährige seine ersten Konzerte. Er gründet seine eigene Produktionsfirma und initiiert später im Indie-Rock-Club „Empty Bottle“ eine Mittwochsreihe mit improvisierter Musik. Dazu kommt das mittlerweile jährlich stattfindende „Empty-Bottle-Festival“, zu dem er auch die wichtigen Vertreter aus der deutschen Szene der frei improvisierten Musik einlädt, wie den Saxofonisten Peter Brötzmann oder den in diesem Jahr verstorbenen Bassisten Peter Kowald. Er ermutigt die Musiker zu gegenseitigem Austausch und Zusammenarbeit und schafft in seinen Konzertreihen und Artikeln ein Forum für die europäische freie Szene. Gemeinsam mit dem Musikjournalisten Lloyd Sachs und seinem Freund und Kollegen Kevin Whitehead gestaltet Corbett jeden Montagmorgen die Radiosendung „Writer’s Bloc“ auf WNUR-FM. Er gewann verschiedene Auszeichnungen, u. a. für „Exellence in Journalism“, für das „beste CD-Booklet“ und als „bester Produzent für Live-Musik“.

Von seiner Ernennung zum künstlerischen Leiter des JazzFests erfuhr er durch einen griechischen Freund. Kurz darauf kamen Glückwunschmails und erst dann rief Corbett selbst in Berlin an, um nachzufragen. Wie er dazu gekommen ist, weiß er selbst nicht. Die Verbindung kommt über das Chicagoer Goethe-Institut. So hat Festspielleiter Joachim Sartorius, selbst vom Goethe Institut kommend, Corbett auf Empfehlung nominiert. Die Male, wo Corbett sich in Berlin aufhielt, war er vor allem beim Total Music Meeting zu sehen. Dem traditionsreichen Festival für improvisierte Musik, das seit über 30 Jahren parallel zum JazzFest stattfindet.

Noch am Abend vor der offiziellen Bekanntgabe seiner Ernennung wünschte er sich eine Zusammenarbeit der beiden Festivals. Dass es nicht dazu gekommen ist und das Total Music Meeting von Seiten des JazzFests geradezu totgeschwiegen wurde, liegt offenbar an einem größeren Missverständnis auf beiden Seiten sowie mangelnder Kommunikation. So finden neben den wenigen klassisch melodieorientierten Konzerten jetzt zwei Festivals mit improvisierter Musik gleichzeitig statt. Dabei betont Corbett, wie sehr das Total Music Meeting ihn geprägt habe, das er als eines der wichtigsten Festivals der Welt ansehe.

Corbett ist stolz, den Chicagoer Schlagzeuger und Künstler Milford Graves in Berlin zu präsentieren. Er sieht Graves als einen der wichtigsten Neuerer des Schlagzeugspiels und konnte ihn und Peter Brötzmann zu einem Duo-Projekt ermutigen. Ein weiterer Programmschwerpunkt ist der „New Dutch Swing“. Die neue Amsterdamer Szene, die in dem gleichnamigen Buch von Kevin Whitehead beschrieben wird. Corbett, selbst Musiker, hat seinen schwedischen Saxofonisten Mats Gustafsson gleich in zwei verschiedenen Formationen zum JazzFest geholt. Es gehe ihm vor allem darum, die Musiker vorzustellen, die bisher auf den großen Bühnen unterrepräsentiert waren. Die wichtige experimentelle Schule des Chicagoer AACM gehört für Corbett wohl nicht dazu. George Lewis ist hier kein Argument. Aber es soll ja auch kein Chicago-Festival sein.

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