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zwischen den rillenEinmal New York–London: das neue Rocklexikon

Steine im Rollen

Als die junge New Yorker Band The Strokes im Frühjahr 2001 ihr Debüt „Is This It“ veröffentlichte, waren sich die Experten für Rock und Lifestyle nicht eins: Die einen moserten: „Hype“ und „Musik von gestern“, die anderen waren begeistert von ihrer coolen Frische und Unbekümmertheit.

Nun scheint es, als hätten die Strokes tatsächlich die Steine ins Rollen gebracht, und es kommen Erinnerungen an 1977 (Punk), 1986 (C-86) oder 1991 (Nirvana) auf: Zahllose Bands haben sich von dem Joch von Grunge, Lo-Fidelity-Rock und Oasis befreit und bedienen sich wie die Strokes der unterschiedlichsten Stile der jüngeren Vergangenheit. Das Zentrum dieses neues Rock ’n’ Roll ist New York, doch es gibt auch Vertreter aus Australien, Neuseeland, Schottland und England. Die Inspirationen aber stammen aus Großbritannien, vor allem aus der Zeit von 1979 bis 1993. Die hier getroffene Auswahl ist willkürlich – es hätten auch die Liars, The Faint oder die Yeah Yeah Yeahs sein können –, aber repräsentativ.

1. Radio 4, aus Brooklyn: eine strictly New York fühlende Band, die stolz darauf ist, mit ihrem Zweitling „Gotham“ ein schwer nach New York klingendes Album über New York eingespielt zu haben. Ein Album übrigens, das vor dem 11. 9. fertig war und sich primär gegen die Giuliani’sche Law-Order-Politik richtet. Mit Songs wie „Save Your City“ oder „Our Town“ beschwören Radio 4 eine Stadt, die wild, aufregend und gefährlich ist und nach Einbruch der Dunkelheit zu Höchstform aufläuft, Gotham City eben. Ihr erster Hit „Dance To The Underground“ gibt mit nervösem Groove und einem schönen Mitgröl-Refrain den Takt des Albums vor: Fight for your right to party. Hat man natürlich schon mal gehört: weniger bei den Beastie Boys als bei The Clash, The Jam und den Happy Mondays. Aber so ist das in New York: London liegt näher als Memphis.

2. The Libertines, aus London: eine Band, die als die ultimative britische Antwort auf die Strokes gilt. Ein Reimport sozusagen, dessen Debüt „Up The Bracket“ nach oberflächlichem ersten Hören wirklich keiner braucht, der die Strokes in seinem Schrank stehen hat. Außer eben dem NME, der seit Jahr und Tag die US-Bands begeistert feiert („Julian’s Birthday“) und feiern muss und jedes Mal, wenn er britische Bands wie The Coral oder The Music ins Rennen schickt, allein an seiner Verkaufsauflage registriert: Hat sich wieder kein Schwein für interessiert. Gut also, dass es The Libertines gibt, die retten die Ehre des NME, Englands und der Queen. Beim zweiten Hören aber kommt die britische Komponente voll zum Tragen. Plötzlich schimmert durch die Libertines-Songs Pop-Appeal, plötzlich wirken sie trotz Garagensound vielschichtiger, elaborierter und hymnenhafter als die der Strokes, nicht mehr so ins Gesicht, sondern um die Ecke. Referenzen? The Clash und The Jam, klar, aber auch Pogues, Bogshed, Wire oder Membranes. Querbeat, um es mal mit Peter Rüchel zu sagen

3. Interpol, aus New York: eine Band, die mit einer EP beim hippen schottischen Label Chemikal Undergound (Delgados, Arab Strap) debütierte (siehe auch: Strokes, bei Rough Trade). Die Songs des Interpol-Debüts „Turn On The Bright Lights“ nicht mit britischer Musik der frühen Achtzigerjahre in Verbindung zu bringen, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Oder die Ramones in London anzusiedeln. Wer der sehr stylishen Band wohlgesonnen ist, hört sie beeinflusst von Joy Division und The Smiths; ein Songtitel wie „Stella was a diver and she was always down“ scheint direkt aus Morisseys Notizbuch zu sein. Wer böse ist, bringt Bauhaus und The Chameleons ins Referenzspiel. Doch haben diese Düster- und Romantikbands manchen Teen nicht entscheidender beeinflusst als Klassiker wie Joy Divison oder The Clash? Warum also nicht. Das endlose Achtziger-Revival findet so auch im Underground statt, und Revolution und schwarze Anzüge haben sich bekanntlich noch nie ausgeschlossen.

4. V-Twin, aus Schottland: eine Band, deren Devise „Krypticism begins at home“ heißt und die kein Mensch auf der Rechnung hat. Nicht mal der NME. Auch Belle and Sebastian waren mal so drauf und verweigerten sich jeder Öffentlichkeit. Man kann auch sagen: V-Twin sind die Residents der Nullerjahre, nur ohne Masken. Im Kern bestehen V-Twin aus vier Musikern, zeitweise aber sind es auch bis zu 13, unter ihnen Jennifer Herrema und Neil Haggerty von Royal Trux. Nicht von ungefähr heißt das Debütalbum von V-Twin „The Blues Is A Minefield“, dessen Songs ziemlich kaputt und eklektizistisch rüberkommen mit ihren eiernden Bläsern, leiernden Pianos, großen und kleinen Beats und dem hingebungsvollen Gesang. Dunkel, gewalttätig, groß. Sofort einnehmende Despotenmusik, deren zahlreiche Rückgriffe die totale Gegenwart darstellen.

5. Nada Surf, aus New York: eine Band, die eigentlich nur am Rande mit dem vielen, neuen Rock ’n’ Roll zu tun hat. Ihre Homebase aber sorgt dafür, dass auch sie mitten im bewegten Geschehen steht. Nada Surf sind vergleichsweise alte Recken und hatten schon einen Hit, als die Strokes noch auf Schweizer Internate gingen. „Popular“ hieß das Stück und füllte Mitte der Neunziger die Lücke zwischen Nirvana und den Lemonheads. Dann aber ging es nicht recht weiter, Nada Surf und ihre feinen Power-Pop-Songs verschwanden irgendwo zwischen New York und London. Ihr jetzt drittes Album „Let’s Go“ ist also eine Art Comeback. Darauf befinden sich lauter zeitlose Hits, auf die viele andere Bands neidisch sind. Am meisten aber Dave Grohl, der sich für jedes neue Foo-Fighters-Album von Nada Surf inspirieren lässt. Es könnte sein, dass diese Band auch dann noch gute Alben macht, wenn kein Mensch mehr was von den Strokes, den Libertines oder den Vines wissen will und das Jahr 2002 schon lange Rockgeschichte ist. GERRIT BARTELS

Radio 4: „Gotham“; Interpol: „Turn On The Bright Lights“; Nada Surf: „Let’s Go (alle Labels); The Libertines: „Up The Bracket“ (Rough Trade); V-Twin: „The Blues Is A Minefield“ (Domino/Zomba)

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