Die anatolische CDU

Mit der AK-Parti hat erstmals eine Partei der schweigenden religiösen Mehrheit die Chance zur Regierungsbildung

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Der Tag danach, so viel steht bereits jetzt fest, wird für die politische Prominenz der Türkei ein Tag des Grauens. Wenn am kommenden Montagmorgen die Stimmen der Wahl zum neuen Parlament ausgezählt sind, dürften sich sowohl der amtierende Premier Bülent Ecevit, wie auch die beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz und Devlet Bahceli im Ruhestand wiederfinden. Allen drei Regierungsparteien sagen die Wahlforscher nicht nur eine herbe Niederlage voraus. Das Desaster wird aller Wahrscheinlichkeit nach so weitreichend sein, dass die Spitze des bisherigen politischen Establishments, einschließlich der jetzigen Oppositionspolitikerin Tansu Ciller, es nicht schaffen wird, die in der Türkei mit zehn Prozent extrem hohe Hürde zu überwinden, die vor einem Einzug ins Parlament liegt. Wo in Europa hat es das schon einmal gegeben? Nicht durch einen Militärputsch, sondern vom Wähler wird der größte Teil der politischen Klasse, diejenigen, die seit zwanzig Jahren die Politik des Landes dominieren, auf einen Schlag in die außerparlamentarische Opposition geschickt.

Für diesen radikalen Bruch gibt es aktuelle aber auch weiter zurückliegende Gründe. Aktuell dominiert die Wut der Wähler über eine Wirtschaftspolitik, die zur schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg geführt hat und die Mehrheit der Bevölkerung in schiere Existenznöte treibt. Seit im Februar vergangenen Jahres der Wechselkurs zwischen Dollar und türkischer Lira freigegeben werden musste, weil die Zentralbank die Flucht in den Dollar zu den bis dato garantierten Wechselkursen nicht mehr finanzieren konnte, hat der Wert der türkischen Lira mehr als die Hälfte verloren, mussten tausende kleiner und großer Firmen schließen, wurden 1,5 Millionen Menschen aus den sowieso raren sozialversicherten Jobs entlassen. Dafür wird die amtierende Regierung vom Wähler abgestraft werden.

Das betrifft vor allem den 76 Jahre alten, gesundheitlich schwer angeschlagenen Premier Ecevit und dessen Partei DSP. Aber auch Mesut Yilmaz und seine Anap sowie Bahceli und seine rechtsradikale MHP werden wahrscheinlich verschwinden. Kurzfristig sah es so aus, als könnten Exaußenminister Ismail Cem und der erfolgreiche Wirtschaftstechnokrat Kemal Dervis die Lücke füllen, doch das „Dreamteam“ des Westens und der westlichen orientierten Schichten der Türkei fand nicht zusammen.

Nach längeren Debatten ließ Kemal Dervis seinen Freund Ismail Cem fallen und schloss sich der alten Republikanischen Volkspartei (CHP) an, weil diese bereits stärkere Bataillone versammelt hatte als die von Cem neu gegründete Partei „Yeni Türkiye“ (Neue Türkei). Die CHP hat das Glück, bei den vorangegangenen Wahlen an der Zehnprozenthürde gescheitert zu sein: Sie wird nun nicht für die ökonomische Katastrophe verantwortlich gemacht. Dabei ist sie die traditionsreichste Partei des Landes. Ursprünglich von Atatürk gegründet, ist sie von ihrem Selbstverständnis eine linksnationalistische Partei, die immer einen starken Etatismus vertreten hat und sich als Lordsiegelbewahrer des Kemalismus versteht. Kein Grund mehr, sie zu wählen.

Aber nachdem die anderen etablierten Parteien an der Zehnprozenthürde zu scheitern scheinen und auch Ismail Cems Yeni Türkiye keine Chance hat, ins Parlament zu kommen, ist die CHP plötzlich zur einzigen ernsthaften Alternative zu dem voraussichtlichen haushohen Gewinner der Wahlen geworden, der konservativ-religiösen „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ (AK-Parti) von Recep Tayyip Erdogan. Mit der AK-Parti hat im Gegensatz zur CHP wirklich eine neue Formation die politische Bühne der Türkei betreten: Religiös, aber nicht fundamentalistisch, konservativ, aber wirtschaftsliberal, rechts, aber nicht ultranationalistisch. Zwar kommt die AK-Parti wie ihr großer Führer Tayyip Erdogan (siehe taz vom 23. 10.) aus der Mitte des politischen Islams der Türkei, hat sich aber so weit von ihren Ursprüngen distanziert, dass auch viele nicht religiöse Wähler in ihr die letzte Rettung vor dem Untergang sehen: „Wir sind die anatolische CDU“, sagte Erdogan unlängst über seine Partei. Das wichtigste Argument der Wähler ist: Sie gehören nicht zu denen, die sich seit Jahren auf unsere Kosten bereichert haben.

Vor allem Parteichef Erdogan kommt von ganz unten und hat es, über den Posten des Oberbürgermeisters von Istanbul, bis an die Tore der Macht geschafft. Dabei hatten die Etablierten mit Hilfe der Justiz alles versucht, ihn zu stoppen. Er musste den Posten als Bürgermeister aufgeben, er ging ins Gefängnis, er darf auch jetzt nicht selbst fürs Parlament kandidieren. Ein Verbot der Partei wurde abgeschmettert, über Erdogan selbst wird heute entschieden – zwei Tage vor der Wahl. Doch all das trug bisher nur dazu bei, dass immer mehr Wähler sagten: Jetzt erst recht AK-Parti.

Zusammen mit der AK-Parti und der CHP haben noch zwei weitere Parteien Chancen auf einen Einzug ins Parlament. Die Genc-Parti des Medienbarons und Oberdemagogen Cem Uzan und die pro-kurdische Dehap (siehe Kasten). Erstmals seit der Gründung der türkischen Republik könnte es einer von Kurden dominierten Partei gelingen, den Sprung ins Parlament zu schaffen. Treffen die Wahlprognosen zu, werden die Türken bis auf die CHP das gesamte politische Personal des Landes komplett austauschen: Die Stagnation der letzten Jahre bewirkt in einen politisches Erdbeben.