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Das große Abschiednehmen

Der Mensch rottet manche Tiere und Pflanzen aus, ohne sie überhaupt zu kennen – und sägt damit am eigenen Ast

von BERNHARD PÖTTER

Es wird eng für die Wildnis: Gerade 17 Prozent der weltweiten Landmasse sind nach einem neuen Bericht der Wildlife Conservation Society (WCS) noch vom Menschen unberührte Landschaft und könnten für den Artenschutz eingesetzt werden. Um die Artenvielfalt zu retten, stehen nur noch 568 Flecken zur Verfügung – hauptsächlich in Alaska, Kanada, Russland, Tibet, der Mongolei und am Amazonas.

Und es wird eng auf der roten Liste. Im Anfang Oktober veröffentlichten Überblick der Internationalen Union zur Naturbewahrung (IUCN) drängeln sich inzwischen 11.167 Arten von Lebewesen – 121 mehr als noch vor zwei Jahren. Das baktrische Kamel aus China, die Saiga-Antilope aus Zentralasien, die äthiopische Wassermaus, der spanische Luchs und der mexikanische Artischockenkaktus etwa stehen kurz vor dem Verschwinden. In den letzten 500 Jahren sind nach diesen Aufzeichnungen der Wissenschaftler 811 Arten von Lebewesen eingegangen oder haben nur in Parks und Gärten überlebt. So verschwanden die Süßwassermolusken, zwei Nilpferdarten oder der Meeresnerz.

Das ist nur die winzige Spitze des Eisbergs. Denn die Arten auf der Erde sterben momentan in einem Tempo aus wie beim Massensterben der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren. Heute ist es der Homo sapiens, der das große Sterben verursacht: Die Urmenschen etwa rotteten Mammut oder Auerochsen noch in Handarbeit aus. In der modernen Welt werden nicht nur einzelne Tiere und Pflanzen gejagt, sondern vor allem deren Lebensräume vernichtet. Vor allem die Umwandlung von Wildnis in Ackerland und die Erschließung unzugänglicher Gebiete schaffen zusammen mit Klimaerwärmung und Überdüngung von Gewässern eine Umwelt, in der immer weniger Arten eine Chance haben.

Dabei gefährdet der Mensch seine eigenen Grundlagen. Denn ohne die Dienstleistungen von Tieren und Pflanzen ist eine menschenfreundliche Umwelt nicht zu erhalten, schreibt der Biologieprofessor Paul Ehrlich. „Der wichtigste anthropozentrische Grund für die Bewahrung der biologischen Vielfalt ist die unentbehrliche Rolle, die Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere in Ökosystemen spielen. Der Mensch braucht Pflanzen und Insekten mehr als Leoparden und Wale.“ Pflanzen und Insekten haben aber kaum eine Lobby.

Mit Zahlen zu belegen ist das Artensterben kaum. Denn niemand weiß, wie viele Tier- und Pflanzenarten es überhaupt gibt – und deshalb kann man auch die Zahl der ausgestorbenen Spezies nur schätzen. Bislang sind 1,75 Millionen Arten beschrieben worden, die größte Gruppe sind mit 950.000 die Insekten. Viele Arten werden ausgestorben sein, bevor sie entdeckt sind. Wissenschaftler schätzen, dass es insgesamt zwischen 5 Millionen und 30 Millionen Arten gibt – und aktuell etwa eine Trillion Tiere (als Zahl ausgeschrieben: 1.000.000.000.000.000.000).

Alle schon entdeckt? Von wegen. Vor allem in den Ozeanen, in den Wipfeln der Regenwaldbäume und im Boden leben noch viele Pflanzen und Tiere unerkannt vom Menschen.

Überraschungen sind programmiert: Im kongolesischen Urwald haben Forscher die Spur eines angeblich neuen Menschenaffen zwischen Schimpanse und Gorilla aufgenommen. Und im letzten Jahr fanden Wissenschaftler an der Grenze zwischen Österreich und Deutschland etwas ganz seltenes: eine Wasserrattenart, die bereits als ausgestorben galt.

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