: Photographische Keimzelle
Der Lette-Verein feiert heute sein 100-jähriges Bestehen am Viktoria-Luise-Platz. Zur Förderung von Frauenerwerbstätigkeit gegründet, bietet er heute praxisnahe Ausbildungen für Männer und Frauen
von SABINE AM ORDE
Werden hier heute Frauen noch besonders gefördert? Gabriele Post zögert einen Moment, dann sagt sie: „Nein.“ Und zögert wieder. „Heute geht es uns vor allem darum, gute und praxisnahe Ausbildungen anzubieten, die zudem finanzierbar sind“, sagt Post. „Für Frauen und Männer.“
Die Antwort scheint der 57-Jährigen Leid zu tun. Viele Jahre lang hat sie sich auf verschiedenen Stellen für die Berufstätigkeit von Frauen engagiert. Jetzt ist sie seit vier Jahren Direktorin des Vereins, der in Berlin wie kaum ein anderer für den Kampf um Frauenerwerbsarbeit steht. Doch im Lette-Verein ist genau das kaum mehr ein Thema. Außer an Tagen wie diesen. Denn heute begeht der Verein sein 100-jähriges Bestehen am Schöneberger Viktoria-Luise-Platz.
Der Verein selbst ist noch einige Jahrzehnte älter. Als „Verein zur Förderung der Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts“ hat ihn 1866 der preußische Abgeordnete Wilhelm Adolph Lette gegründet. Zuvor hatte der Nationalliberale, so schreibt es die Frankfurter Soziologin Ute Gerhard in ihrem Buch über die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, in einer Denkschrift auf eine Sorge des Bürgertums aufmerksam gemacht: auf die unverheirateten, nicht durch Ehe versorgten Frauen der Mittel- und Oberschicht. Nach Lettes Vorstellungen sollten sie eine Chance zur Berufsausbildung erhalten, damit sie ihren Familien nicht auf der Tasche lägen.
Eine Konkurrenz für die Männer sah Lette darin nicht. Er ging von einer „naturgemäßen Grenze in der Verschiedenheit der Befähigungen“ zwischen den Geschlechtern aus. Auch durfte die Erwerbstätigkeit nach Lette nicht in Konkurrenz zur eigentlichen Bestimmung der Frau treten, ihren familiären Pflichten. „Was wir nicht wollen und niemals bezwecken“, schrieb Lette in seiner Denkschrift, „ist die politische Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen.“
Sein Verein war eine von Männern initiierte und verwaltete Organisation zum Wohle der Frauen, „wobei die Männer bestimmen, worin das Wohl der Frauen liegt“, schreibt Ute Gerhard. Damit unterschied sich der Lette-Verein, wie er nach dem Tod seines Gründers genannt wurde, grundsätzlich von anderen Vereinen zur Förderung der Frauenerwerbstätigkeit, die Ende des 19. Jahrhunderts vielfach von den Streiterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung gegründet wurden.
Die heutige Direktorin spricht kaum von den frühen Jahren des Vereins. Lieber erzählt Gabriele Post von der Zeit nach Lettes Tod, als dessen Tochter Anna Schepeler-Lette den Vorsitz übernahm. Unter ihrer Führung wurde aus der reinen Fördereinrichtung ein Schulträger. Seit 1872 bietet er selber Ausbildungen an. Zunächst wurde eine Handels- und Gewerbeschule gegründet, bald kamen Ausbildungen zur Telegrafistin, Setzerin und Lehrerin hinzu. 1890 hatte der Verein schon sieben eigene Schulen.
Im selben Jahr entstand die „Photographische Lehranstalt“ – für Post noch immer „die Keimzelle“ für die heutigen Ausbildungen am Lette-Verein. „Daraus haben sich drei Ausbildungsgänge entwickelt, die es heute in moderner Form noch gibt: zur Fotografin, zur Röntgenschwester, die heute Radiologieassistentin heißt, und zur Metallografin.“ Die heutige Berufsfachschule für Design, an der neben Foto- auch Grafik- und ModedesignerInnen ausgebildet werden, ist sicher die bekannteste Schule des Lette-Vereins. „Und sie bringt die bekanntesten Absolventen hervor“, sagt die Direktorin.
Die Photographische Lehranstalt war auch die erste der Lette-Schulen, die Männer aufnahm. Besser: aufnehmen musste. 1910 gab sie dem Druck des Fotografen-Verbandes nach: „Der hat sich beklagt“, erzählt Gabriele Post und lächelt verschmitzt, „dass es eine vergleichbare Ausbildung für Männer nicht gibt.“
Zunächst waren die „Lehranstalten“ des Vereins an verschiedenen Orten der Stadt untergebracht. 1902 wurden sie in einem neu bebauten Areal am Viktoria-Luise-Platz im vornehmen Schöneberger Westen vereint. Der Einzug vor 100 Jahren wird heute mit einem Festakt begangen. In dem noch immer eindrucksvollen und inzwischen denkmalgeschützten Gebäude, das der Architekt Alfred Messel entworfen hat, residiert der Verein auch heute noch. Mitte der Achtzigerjahre wurde es durch ein großes neues Laborgebäude erweitert. Damals unterrichtete auch der heutige SPD-Bildungssenator Klaus Böger am Lette-Verein.
Zwar erscheint die ursprüngliche Bestimmung des Lette-Vereins inzwischen weit weg. Doch immer noch werden an den fünf Fachschulen mit ihren elf Lehrgängen weit mehr Schülerinnen als Schüler ausgebildet: Von den 1.200 Plätzen sind zwei Drittel an Frauen vergeben. Bei den Lehrkräften ist das Verhältnis ähnlich. In manchen Bereichen geht es allerdings – was die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung angeht – recht klassisch zu: In der Hauswirtschaft gibt es kaum männliche Auszubildende, in der Metallografie kaum weibliche. „Das würde ich gerne ändern“, sagt die Direktorin, die außer auf die Tradition vor allem auf die Modernität stolz ist. Denn, so Post, als Privatschule, die zwar von einer öffentlichen Stiftung getragen wird, sei sie längst das, was von anderen Schulen jetzt eingefordert wird: selbstständig. Anders als städtische Schulen kann der Lette-Verein frei über Finanzen und Personal bestimmen. „Wir sind also nicht gezwungen, nur voll ausgebildete Lehrer einzustellen.“ Viele arbeiten hier nur Teilzeit. „Daneben haben sie ein eigenes Foto- oder Designstudio oder arbeiten als Arzt in einem Krankenhaus.“ Städtische Oberstufenzentren mit vollschulischer Ausbildung, die mit den Lette-Schulen am ehesten vergleichbar sind, können das nicht. „Deshalb haben wir sehr praxisnahe und marktgerechte Ausbildungen.“ Doch das reicht der Direktorin nicht: „Historische Verdienste sind nicht zum Ausruhen da.“
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