piwik no script img

„Lebensgefahr in Kauf genommen“

Fachleute der Sozialpsychiatrie klagen in einem offenen Brief den Umgang der Ausländerbehörde mit psychisch kranken Flüchtlingen an: Atteste würden verworfen oder ignoriert, selbstmordgefährdete Patienten „skrupellos“ abgeschoben

von HEIKE DIERBACH

„Die Praxis der Ausländerbehörde steht im Widerspruch zu unserer Verfassung, nach dem das Leben und die körperliche Unversehrtheit Grundrechte sind.“ Dieses Fazit hat Institutionen und Verbände der Hamburger Sozialpsychiatrie zusammengebracht. In einem offenen Brief werfen sie der Behörde vor, Flüchtlinge trotz attestierter psychischer, oft suizidaler Erkrankung abzuschieben und „eine Lebensgefährdung offenbar skrupellos in Kauf“ zu nehmen. Weil diese Praxis „politisch motiviert ist“, erklärt Burkhard Werner vom Rauhen Haus, geht der Brief an alle Fraktionen und den Gesundheitsausschuss der Bürgerschaft.

Elf Institutionen haben den Appell unterschrieben, von der Gemeindepsychiatrie über die Sozialdienste der Psychiatrischen Krankenhäuser bis zur Landesgruppe des Deutschen Psychotherapeuten Verbandes. Die Therapie-Träger sehen sich gegenüber ihren PatientInnen „verpflichtet, Stellung zu beziehen“: Diagnosen über Suizidgefährdung und traumatische Belastungen würden von der Behörde immer häufiger „ignoriert und unterlaufen“ – weil sie ein Abschiebehindernis sind. Gutachten würden als „Gefälligkeitsatteste“ diskreditiert, auch wenn sie fast ausnahmslos von Amtsärzten bestätigt werden.

Zugespitzt hat sich die Situation nach Erfahrung der TherapeutInnen durch eine Dienstanweisung vom November 2001. Danach können SachbearbeiterInnen jetzt in Rücksprache mit dem behördeneigenen ärztlichen Dienst Atteste als „offensichtlich unschlüssig“ verwerfen – ohne weitere medizinische Prüfung (taz berichtete). Für die Fachleute ein „Skandal“: „Die Ärzte der Ausländerbehörde sind für die Diagnose psychischer Erkrankungen gar nicht kompetent“, sagt Werner, „dazu bedarf es einer Facharztausbildung.“

Nach Auskunft der Behörde bedarf es dazu gar keiner ärztlichen Ausbildung: Sprecher Norbert Smekal bestätigte gestern gegenüber der taz, dass die SachbearbeiterInnen zuweilen sogar ganz allein entscheiden, ein Attest zu verwerfen. „Es kann aber ohnehin nicht Ziel sein, dass alle Kranken hier behandelt werden.“ Man habe Erkenntnisse über ausreichende Möglichkeiten in den Heimatländern. Und „dass während der Abschiebung nichts passiert, stellen wir sicher, indem wir einen Arzt mitschicken.“

Die Behörden-Erkenntnisse über die Behandlungsmöglichkeiten stehen allerdings „in eklatantem Widerspruch zu Aussagen der Vereinten Nationen, von entsandten Ärzte-Delegationen oder von Ärzten vor Ort“, kritisieren die TherapeutInnen. Werner sieht in der Praxis der Behörde auch eine laienhafte Haltung zu psychischen Erkrankungen: „Diese werden einfach nicht ernst genommen.“ Das soll übrigens derzeit die Hamburger „Kulturwoche Suizidalität“ ändern. Schirmherr: Bürgermeister Ole von Beust (CDU).

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen