Weder nah noch fern

Fatih Akin zog einst aus, das deutsche Kino mit Migrantenperspektiven zu beleben. In „Solino“ bleibt davon nicht viel: ein bisschen Italiensehnsucht, ein bisschen Ruhrpottepos, ein bisschen Bruderzwist, gefilmt in unentschlossenen Halbtotalen

von ANKE LEWEKE

Rot-weiß karierte Tischdecken, dickbäuchige Chianti-Flaschen im Bastmantel, Mama Rosa kocht Pasta, und Papa Romano macht anderen Frauen schöne Augen: In diesem Film passt einfach alles penetrant ins Bild. Ganz Duisburg scheint in den Sechzigerjahren auf die erste Pizzeria im Pott gewartet zu haben. Statt doppeltem Korn gibt es Grappa, und am Samstag kommen die Kumpels an Romanos Tresen zum Fußballgucken zusammen.

Nun kann man einem Regisseur nicht das Sujet diktieren. Die so genannte erste Gastarbeiterwelle interessiert Fatih Akin jedenfalls kaum über ihre Optik hinaus, vielmehr soll „Solino“ ein Film fürs Herz sein, ein ganz großes, drei Jahrzehnte umspannendes Epos über die Geschichte einer italienischen Familie, die ihr Glück in der Fremde sucht. Geigen und symphonische Walzer geben die Kragenweite von Emotion und Dramatik vor, während Bilder und Geschichte holprig hinterher hinken.

Akins diffuses Verhältnis zu seinem Stoff spiegelt sich wohl am deutlichsten im Gebrauch der Halbtotalen. Unentschlossen schwenkt die Kamera in dieser Distanz, die weder nah noch fern ist, hin und her. Den ganzen Film prägt ein fast schon pittoresker Zugriff: Italien ist eine Landschaft wie aus dem Bilderbuch, mit schwarz gekleideten Frauen und patriarchalen Großvätern auf dem Sterbebett. Duisburg, eine adrette Musterarbeiterstraße und die Totale einer Zeche, wirkt seltsam steril, etwa so wie die übrig gebliebene Kulisse der TV-Serie „Rote Erde“, an deren klassenkämpferischen Pottsentimentalismus wir uns vage erinnern.

Das Fehlen einer wie auch immer gearteten Gegenwärtigkeit lässt Akins drittem Film denn auch permanent die Luft ausgehen. Dabei bewies der deutschtürkische Regisseur mit seinem Debüt „Kurz und schmerzlos“, dass er auch anders kann: Die Geschichte der bedingungslosen Freundschaft zwischen einem Türken, einem Serben und einem Griechen fand er vor der eigenen Haustür in Hamburg Altona. Trotz einiger Genre-Koketterien verlor Akin nie sein Milieu aus den Augen, zeichnete zwischen Hinterhöfen, türkischen Wohnzimmern und serbischen Hochzeiten die lebendige Welt eines Stadtteils, seiner Kleinganoven und Kiezgrößen.

In „Solino“ hingegen verlieren sich die Siebzigerjahre in den sorgfältig gecasteten grün-orangen Tapeten, während Moritz Bleibtreu und Barnaby Metschurat in knallengen Jeans und mit angeklebten Haaren ziemlich lackaffig aussehen. Ihr Zwist ist der rote Faden des Films. Metschurat gibt den kleinen, klugen Bruder, dem vom älteren Taugenichts (Bleibtreu) übel mitgespielt wird. Die erste Freundin und auch noch den Traumberuf des Regisseurs schnappt er ihm weg. Zu diesem Zeitpunkt ist der Film längst in eine küchenphilosophische Moral abgedriftet: kalte Karriere gegen die italienische Modellfamilie. Mit dem jüngeren Spross, der sein wahres Selbst in der Abgeschiedenheit des süditalienischen Heimatdorfes findet, verfällt Akin in einen einfältigen Diskurs, der „Heimat“ und „Zugehörigkeit“ nur mehr als ungeklärte Begriffe mitschleppt. Ein seltsam antimodernes Ende für einen Regisseur, der einmal ausgezogen war, das deutsche Kino in aller Selbstverständlichkeit mit Migrantenperspektiven zu beleben.

„Solino“. Regie: Fatih Akin. Mit Moritz Bleibtreu, Barnaby Metschurat, Antonella Attili u. a., Deutschland 2002, 120 Minuten