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Der elektronische Patient

Die Vision von der tragbaren Krankengeschichte wird wahr. Die in Planung befindlichen neuen elektronischen Gesundheitskarten sollen alle relevanten Krankendaten enthalten. Patientenvertreter befürchten den gläsernen Patienten

von KLAUS-PETER GÖRLITZER

Geht es nach dem Kalkül von SPD und Grünen, so werden viele Menschen ihre medizinischen Daten bald ständig mit sich herum tragen – gespeichert auf einer Mikroprozessor-Chipkarte im Kreditkartenformat. Die elektronische „Gesundheitskarte“, so verheißt der neue Koalitionsvertrag, werde „auf freiwilliger Basis“ eingeführt, um Transparenz, Wirtschaftlichkeit und Effizienz im Gesundheitssystem deutlich zu verbessern.

Dass die politisch verordnete Technik verlässlich funktioniere, datenschutzgerecht sei und von PatientInnen, MedizinerInnen und ApothekerInnen auch gern genutzt werde, sollen nun Modellversuche demonstrieren. Für aussagekräftig hält das Bundesgesundheitsministerium (BMG) Chipkartentests mit einer Mindestbeteiligung von 100.000 Versicherten, hundert Arztpraxen, drei Kliniken und sechzig Apotheken; die Ergebnisse sollen bereits 2004 vorliegen, wobei eine nicht näher definierte „wissenschaftliche Begleitung“ angekündigt ist.

Allerdings steht überhaupt erst ein Projekt in den Startlöchern. „Mit unserer ,Gesundheitskarte Schleswig-Holstein‘ haben wir bundesweit die Nase vorn“, freut sich Heide Moser (SPD), Sozialministerin des nördlichsten Bundeslandes. Der Kartenname ist eher großspurig gewählt, denn der Testlauf beschränkt sich zunächst auf die Stadt Flensburg.

Ziemlich bescheiden sind, gemessen an den BMG-Kriterien, die bisherigen Zahlen: Nur fünfzehn Arztpraxen verschiedener Fachbereiche wollen sich beteiligen, außerdem zwei Kliniken und eine Apotheke. Fast ebenso lang ist die Reihe der Unterstützer, sie reicht von AOK und Landesärztekammer bis zu diversen Kartenfirmen. Noch fehlen die PatientInnen: Sie sollen erst ab 2003 zum freiwilligen Mittesten bewegt werden – mittels „gezielter Ansprache“ in Arztpraxen, wie die Flensburger Allgemeinärztin Ingeborg Kreuz in Aussicht stellt, die sich im Projekt engagiert.

Ohne Menschen, die bereit sind, die Rolle der Testpersonen zu spielen, läuft allerdings nichts. Denn es sind ihre medizinischen Daten, die auf der Mikroprozessorkarte gespeichert werden sollen, zum Beispiel: Blutgruppe, Allergien, chronische Erkrankungen, Impfungen, Implantate, Überweisungen, Adresse und Versicherungsstatus.

Später sollen Arzneimittelverordnungen folgen, die Dokumentation von Mutterpass und „Organspende“-Ausweis ist ebenfalls vorgesehen. Außerdem soll die Karte „Schlüssel“ enthalten, die den Zugriff auf Informationen ermöglichen, die nicht auf dem Chip, sondern auf externen Servern liegen. Dies gilt zum Beispiel für digitalisierte Röntgenaufnahmen und das geplante elektronische Rezept. Insgesamt 99 Datensätze soll die Flensburger Karte speichern können.

MedizinerInnen, die vom Inhaber der Karte autorisiert werden, können sie in ein spezielles Lesegerät stecken und sich per Tastendruck alle gespeicherten Daten auf den Computerbildschirm holen, sie ausdrucken und auch ergänzen. Der technische Aufwand soll erklärtermaßen dazu dienen, Versicherten unnötige Untersuchungen zu ersparen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen rasch zu erkennen und die Zusammenarbeit von niedergelassenen ÄrztInnen, Kliniken und ApothekerInnen zu fördern.

Solche Effekte zur „Verbesserung der Qualität der medizinischen Behandlung“ führt auch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) regelmäßig an. Hauptsächlich geht es aber ums Geld: Die zig Milliarden Euro teuren Investitionen, die für die Einführung neuer Chipkarten und Lesegeräte notwendig sein und laut Schmidt „auch den betroffenen Industriezweigen wichtige Impulse geben“ werden, sollen sich rentieren. Möglich werde dies, so die BMG-Parolen, durch „Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Leistungstransparenz im Gesundheitswesen“ sowie die „Stärkung der Eigenverantwortung und Mitwirkungsbereitschaft der Patienten“.

Dass maschinenlesbare Chipkarten für „Programme zur Gesundheitserziehung“ und „Präventionsstudien“ sehr hilfreich sein könnten, haben Medizininformatiker und Industrievertreter bereits Anfang der Neunzigerjahre prophezeit, als sie die Vision von der digitalisierten Krankengeschichte im Pocketformat erstmals in einem „Memorandum“ propagierten. Heute findet es Ulla Schmidt sinnvoll, „Gesundheitskarten“ auch im Rahmen von „Disease-Management-Programmen“ einzusetzen, die beanspruchen, die Versorgung chronischer kranker Menschen auch dadurch zu verbessern, dass sie gesundheitsrelevantes Verhalten definieren, steuern, messen, kontrollieren und sanktionieren.

Eher skeptisch sieht die Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen (BAGP) die Chipkarten-Pläne; sie ahnt, dass die Technik sich auch dazu eignet, das Solidarprinzip auszuhöhlen: „Der Gesundheitspass“, mutmaßt die BAGP, „könnte von den Krankenkassen als Bonusheft für gesunde Lebensweisen benutzt werden. Gesundheitsschädigendes Verhalten wird dann bestraft. Doch wer bestimmt, was gesund ist?“

Diese Frage gewinnt noch an Brisanz, wenn nicht nur Diagnosen und Befunde gespeichert werden, sondern auch Risiken und Veranlagungen für Erkrankungen, die beim Karteninhaber noch gar nicht ausgebrochen sind. Die Versuchung, auch genetische Daten erheben und registrieren zu lassen, dürfte in den nächsten Jahren größer werden – spätestens, wenn die Pharmaindustrie versuchen sollte, ihre visionäre Variante zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit zu realisieren: das Konzept von der „individualisierten Medizin“ mit „maßgeschneiderten Medikamenten“.

Derartige Arzneien, so der pharmakogenomische Ansatz, sollen nur definierte Gruppen mit bestimmten Genprofilen einnehmen. Dies setzt voraus, dass sich PatientInnen vor der Verordnung „maßgeschneiderter“ Arzneimittel molekulargenetisch testen lassen. Informationen zu persönlichen Genvarianten, die unerwünschte Medikamentenwirkungen angeblich auslösen, sollten auf Chipkarten gespeichert und bei jedem Arztbesuch vorgelegt werden.

Die PatientInnenstellen unken zwar, der freiwillige Gesundheitspass könne „Zwangscharakter bekommen“. Aber sie gehen nicht so weit, wie ein beamteter Datenschutzbeauftragter dies schon mal vorgeführt hat: Als die AOK Leipzig 1995 eine Chipkarte namens „VitalCard“ anpries, rief Sachsens oberster Datenschützer, Thomas Giesen, die Versicherten öffentlich zum Boykott auf! Die Kritikpunkte an der VitalCard, die Giesen damals benannte, gelten grundsätzlich auch für die heute geplanten „Gesundheitskarten“.

Der Datenschützer bemängelte, Kommunikation von Arzt zu Arzt, die durch Karten angeblich gefördert werden solle, „findet nicht statt, vielmehr lediglich ein einseitiger Transport von Begriffen und Schlagworten“. So bestehe die Gefahr, dass sich der konsultierte Arztkollege mit den gespeicherten Daten begnüge und „fälschlich auf eigenständige Feststellungen verzichtet“.

Bedroht sah Giesen auch die – formal garantierte – Freiwilligkeit der Karteninhaber: „Der Versicherte unterliegt im täglichen Leben großem sozialen Druck zur Offenlegung dieser Daten.“ Ausländerbehörde, Sozialamt, Polizei, Arbeitgeber, Versicherungen – sie alle seien an sensiblen Gesundheitsdaten durchaus vital interessiert.

Wohl gemerkt: Giesen hat seine Bedenken vor sieben Jahren geäußert. Was die verheißenen „Gesundheitskarten“ nach Flensburger Machart von der einstigen VitalCard unterscheidet, ist vor allem die Tatsache, dass sie erheblich größere Datenmengen speichern können und außerdem laut Plänen des BMG zur „Kommunikationsschnittstelle“ zwischen verschiedenen Telematikanwendungen im vernetzten Gesundheitswesen werden sollen.

Gelingt dies tatsächlich, dürfte noch utopischer werden, woran es schon heute sehr mangelt: Transparenz für die Versicherten darüber, welche Gesundheitsinstitution was wann über sie weiß – und zu welchen Zwecken sie dieses Wissen nutzt.

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