: Ein Blick in den Abgrund
aus Abidjan DOMINIC JOHNSON
Vielleicht war es das leichte Zucken im Gesichtsausdruck des Jungen mit der Sonnenbrille, als seine Nachbarn mich in den Trümmern ihres Hauses begrüßten. Oder die auffällige Nähe, die einige der obdachlosen Slumbewohner suchten, ohne selbst etwas zu sagen. Die Warnsignale waren da. Aber ihre Bedeutung wurde erst klar, als der dunkelblaue Wagen der Gendarmerie heranraste, drei Uniformierte ausstiegen, auf mich zustürmten und brüllten: „Sie stehen zu unserer Verfügung!“
Der Gendarm in Olivgrün war ganz aufgeregt, als er mich während der Hochgeschwindigkeitsfahrt in seine Station gestenreich aufforderte, meine Taschen zu leeren und alles auf den Boden des Wagens zu legen. Obwohl ich stattdessen die Sachen sorgfältig auf dem Autositz ausbreitete, beruhigte er sich plötzlich. Er nahm meine Notizen an sich, meine Papiere auch. Es war der Anfang einer Begegnung mit der Macht, die immer unheimlicher wurde und erst im Flugzeug nach Paris 51 Stunden später endgültig vorbei war.
Festgenommen wurde ich dort, wo in Abidjan zwei Welten aufeinandertreffen. Das Einkaufszentrum „Sococe“ im mondänen Stadtviertel Deux-Plateaux, mit französischem Supermarkt, Cafés und Fachgeschäften in einer exklusiven Ladenpassage, ist ein Stück Frankreich mitten in Afrika. Es entspricht dem Bild, das die Elfenbeinküste gern von sich gibt – reich, hoch entwickelt und weltoffen. Aber wer den Hinterausgang nimmt und die schmale bergab führende Straße hinuntergeht, stößt nach nur 100 Metern auf eine Mondlandschaft. Bis an den Horizont erstrecken sich Trümmer aus Holz und Wellblech, Mauerreste, Müll, zerstreuter Hausrat.
Die Trümmer sind bewohnt. Das Quartier „hinter dem Sococe“ mit geschätzt 3.000 Bewohnern ist eine der vielen Elendssiedlungen, wo Abidjans westafrikanische Einwanderer leben – knapp ein Drittel der drei Millionen Einwohner. Am 23. Oktober ließen die Behörden Bulldozer über das Viertel rollen, ohne Vorwarnung. Das ist die Elfenbeinküste, wie sie heute wirklich ist und wie die Außenwelt sie nicht sehen darf.
„Ihr steht doch außerhalb der Republik, ihr seid nichts“, schimpfte der Gendarm in Olivgrün, als die Slumbewohner, die mit dem ausländischen Journalisten geredet hatten, beim Anblick des dunkelblauen Wagens auseinanderstoben. Nichts? Seit 18 Jahren, also die Hälfte seines Lebens, wohnt der 36-jährige Mamadou Ouedraogo „hinter dem Sococe“. Der Mann aus Burkina Faso, von Beruf Chauffeur, ist jetzt arbeitslos. Seine Mutter sitzt gebeugt in den Resten des in Kleinarbeit entstandenen Familienhauses. Die einzige übrig gebliebene schräge Holzwand bietet nur wenig Schutz vor drückender Sonne oder stürmischem Regen. Fliegen umschwirren die Möbel auf der feuchten Erde: Eine Bank, eine Schrank, ein Tisch. Ein Radio. Mehrere Paar Schuhe, Taschen, Kleider. Auf einem Holzvorsprung liegt eine neue, weiß-gelbe Zahnbürste.
„Die Polizisten kamen um zehn Uhr mit ihren Maschinen“, sagen die Leute über den 23. Oktober. Die Bulldozer fuhren von oben den Hügel herunter und rissen alles mit, was im Weg stand. Wer zahlte, durfte seine Habseligkeiten in Sicherheit bringen. Aber viele Leute waren bei der Arbeit und verloren alles: Haus, persönliche Sachen, Ersparnisse.
„Erst gestern kam die Polizei wieder und fing an, die Leute zu durchsuchen“, erzählt die Ghanaerin Melissa Darzie, eine stämmige junge Frau, mit lauter, wütender Stimme. „Sie machen unsere Sachen kaputt, und sie durchsuchen uns Frauen, als wären wir Männer, auch zwischen den Beinen. Man zahlt 10.000 oder 20.000 CFA (15 oder 30 Euro), dann wird man in Ruhe gelassen.“ Sie hat die Schnauze voll. Weder Staat noch Hilfswerke täten etwas für sie. „Wir wollen nach Ghana zurück, aber wir haben kein Geld. Vor zwei Wochen schickte Ghana einen Bus, aber da wussten wir ja noch nicht, was passieren würde. Also blieben wir hier. Jetzt wissen wir nicht, ob es wieder einen Bus geben wird.“
All das erzählen die Leute begierig, als ich in ihren Ruinen herumklettere. Alle bestehen darauf, dass ich ihre Namen aufschreibe, ihre Ausweise ansehe. Wenn ich einen vergesse, protestieren sie. Sie wollen nicht mehr unsichtbar sein: Nongma Regtoumda, geboren 1949, wohnhaft mit Frau und vier Kindern neben einem Stück Wellblech, wo auf einem Holzkohlekocher eine winzige Schüssel mit dem Abendessen für die ganze Familie steht. Robert Tago und Albert Tago, zwei Brüder vom Matschhaufen nebenan. Laurent Mamadou Gouba und seine Frau Boussim Guiallo. Anérotène Somé, geboren 1953, von Beruf Koch. Damatoué Mbansi, die mit ihren Kindern durch den Müll stapft. Elaine Diema. Rabio und Chantal Moussa. Marius Zondé. Ange-Dominique Vale Blami. Prince-Trésor Legue Guenène. Es kommen immer mehr, die Liste wird länger. Sie kommen aus Burkina Faso, Ghana, Togo, Liberia. Manche haben auch die ivorische Staatsbürgerschaft. Sie drängeln sich in schmutziger Kleidung und verschwitzten Gesichtern.
Schließlich kommen die Gendarmen. Sofort löst sich die Gruppe auf, die Ordnungskräfte agieren hektisch und nervös, wie in Feindesland. Was man mir vorwirft, frage ich während der eiligen Abfahrt. „Das werden wir sehen.“
Die Fahrt geht ins Bezirkshauptquartier der Gendarmen, die „Brigade de Cocody“. Es ist keine kluge Propaganda, einen ausländischen Journalisten hier hinzubringen. Gegenüber dem einstöckigen weißen Bau liegt ein weiteres zermalmtes Elendsviertel auf einem Steilhang, wo die Leute kaum noch Halt finden in der zu Ende gehenden Regenzeit. Auf dem Boden der Eingangshalle sitzt zusammengesunken ein schlanker junger Mann. Am Gesäß seiner grauen Hose breitet sich ein dunkler Fleck aus und färbt die schmutzig-weißen Bodenfliesen rot.
Der Häftling ist ein ivorischer Journalist der Oppositionszeitung Le Patriote, die gerade eine Liste von „Verschwundenen“ veröffentlicht hat. Seine Bewacher haben ihm das Mobiltelefon abgenommen und interessieren sich für die Namen im Speicher. Sie führen ihn in ein Zimmer. Durch die Tür dringen die Stimmen der Gendarmen. Das Verhör ist zornig und laut.
Dem Kommandanten von Cocody, ein ergrauter Mann mit Brille, gefallen die roten Flecken auf dem Boden überhaupt nicht. Er ordnet barsch an, dass jemand sie aufwischt. Der Zustand des Häftlings interessiert ihn nicht. Später kann der Misshandelte nicht mehr sitzen, liegt wimmernd auf dem Fußboden des Flurs, während im Fernsehen alberne Zeichentrickfilme laufen. Zugleich erklären mir die Gendarmen auf der Veranda in der Abenddämmerung den Krieg. „Wir haben das abgerissen, weil sich da Angreifer drin verstecken könnten“, sagt einer mit Blick auf die Ruinen gegenüber. Hatten sich denn da je welche aufgehalten, frage ich? „Nein. Aber es hätte ja sein können.“
Mich behandeln die Gendarmen korrekt. Der Schriftführer will bloß wissen, warum ich „hinter dem Sococe“ war, welche Fragen ich stellte, welche Antworten ich bekam. „Wer hat Sie geschickt? Wie lautet Ihr Auftrag?“
Die Entdeckung, dass ich britischer Staatsbürger bin, aber für eine deutsche Zeitung arbeite, ist für den Kommandanten eine Erleuchtung. „Siehst du, so funktioniert das!“, ruft er seinem Adjutanten zu: Man schickt Journalisten von „zweifelhafter Nationalität“ in die Elfenbeinküste, die dann natürlich Sympathie für die Einwanderer hegen. Ich bin sozusagen zum Feind veranlagt.
Ein Haftgrund ist das nicht, aber meine Papiere werden trotzdem einbehalten, als die Gendarmerie mich abends ins Hotel zurückschickt. Das Fehlen einer Akkreditierung, nicht nur vom Kommunikations-, sondern auch vom Verteidigungsministerium, dient als Grund, mich für den nächsten Tag erneut einzubestellen. Obwohl kein Gendarm danach gefragt hat, obwohl nach Auskunft von Diplomaten solche Akkreditierungen derzeit fast unmöglich zu kriegen sind und obwohl das Kommunikationsministerium alsbald die Aussichtslosigkeit des Verfahrens durchblicken lässt. „Wir haben Mittagspause“, lautet die erste Antwort am nächsten Tag im Ministerium, als ich nach meiner vorläufigen Freilassung die zuständige Stelle finde. „Kommen Sie um 15 Uhr wieder und stellen Sie einen schriftlichen Antrag aus Deutschland.“
Bis es so weit ist, muss ich noch zwei Mal in der Gendamerie erscheinen. Auch nachdem man mir die Papiere zurückgibt und wutschnaubend die Auflage erteilt, unverzüglich Akkreditierungen zu beschaffen, muss ich weiter in der „Brigade de Cocody“ sitzen, ohne erkennbaren Sinn. Die Unsicherheit nimmt zu. Warum kann ich nicht gehen? Werde ich verfolgt, wenn ich doch gehe? Wieso ist ausgerechnet der Taxifahrer, den ich schließlich unweit der Gendarmerie anhalte, der Einzige während des gesamten Aufenthalts in Abidjan, der die Regierungsposition vertritt?
Es gibt viele Krisengebiete in Afrika, wo sich manchmal solche Fragen aufdrängen. Aber die Elfenbeinküste ist anders. Sie befindet sich im Krieg, aber sie hat noch keinen Staatszerfall erlebt. Noch funktioniert alles. Apparate und Dienste arbeiten auf Hochtouren. Das macht diesen Krieg so gefährlich.
Zum Beispiel, wenn ein bislang schweigsamer Gendarm bei meinem dritten Besuch in Cocody abrupt den Ton ändert: „Warum wollt ihr Europäer nicht, dass sich Afrika entwickelt? Wir Ivorer wollen bloß unser Land, aber ihr kommt und macht uns Probleme. Warum schreibst du über Elendsviertel hier in der Elfenbeinküste? Du wirst schon noch sehen. Wir werden dir noch eine Lektion erteilen. Wir machen mit dir dasselbe wie mit dem anderen“.
Gemeint ist der blutig geschlagene Oppositionsjournalist, der am selben Tag in ein Gefängnis gebracht worden ist. Der Gendarm fährt sich mit der Hand an die eigene Gurgel und blickt mich hasserfüllt an. „Du Hund.“ Dann wird er zum Einsatz gerufen.
Dass dieser dritte Besuch in der „Brigade“ für mich der letzte ist, weiß ich erst, als am nächsten Abend das Flugzeug abhebt. Dann ist die Unsicherheit vorbei. Anders als für die Menschen „hinter dem Sococe“, die ihr Leben lang für dieses Land geschuftet haben und jetzt weggeworfen werden wie Müll.
Sie sind die Opfer des Konflikts. Sie wussten wohl, warum es ihnen so wichtig war, jemandem ihre Namen mitzuteilen. So wie der alte Burkiner Nongma Regtoumda, der mit seinen 53 Jahren müde und mit zerfurchtem Gesicht im grünen Gewand vor den Trümmern seiner Hütte stand und meinte: „Wenn man kein Haus hat, keinen Platz zum Schlafen, nichts zu essen, keine Arbeit – dann kann man nicht mehr.“
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