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Pizza Hawaii in Toni‘s Bauernstube – die Fußgängerzone

Erwachsen und vernünftig werden in einer „autofreien Innenstadt“

Sie blätterten so aufmerksam in den Speisekarten, als ob zwischen Pizza Mista und Broccoli al Forno einige wirklich interessante Entdeckungen zu machen wären. Auf dem Tisch brannte eine Kerze, und neben Steffi stand auf einem kleinen Holzregal ein geflochtener Korb mit Plastikobst und künstlichem Weinlaub, das malerisch über den Rand auf die Lehne der gepolsterten Bank hinunterrankte. Das Ganze sah sehr idyllisch aus und ergänzte sich hervorragend mit der Lampe, die den vorderen Teil der Pizzeria in gedämpftes Licht tauchte: ein altes Wagenrad, an dem wie an einem Kronleuchter kerzenförmige Glühbirnen befestigt waren. „Ich nehme sowieso immer Pizza Hawaii“, sagte Steffi und klappte die Karte zu. Michael überlegte noch.

Die Pizzeria hieß Toni’s Bauernstube. Toni war Anfang vierzig, trug fast immer eine Sonnenbrille und fuhr einen dunklen BMW. Um seinen Gästen einen Gefallen zu tun, hatte er den italienischen Akzent beibehalten, obwohl sein Deutsch perfekt war. Er fuhr schließlich seit mehr als zwanzig Jahren nur noch in den Sommerferien in sein Heimatland.

Toni hatte ein paar Stammgäste, die beinahe jedes Wochenende zum Essen kamen, ihn lauthals duzten und sich am liebsten mit ihm über italienische Fußballmannschaften unterhielten. Bevor sie gingen, schenkte er ihnen persönlich einen Grappa ein, was als eine besondere Gunstbezeugung aufgenommen wurde: Mit ihrer Mischung aus toskanischem Kitsch und einheimischer Rustikalität war Toni’s Bauernstube genau die Pizzeria, wie man sie sich in der Provinz vorstellt. Die blonde Kellnerin, die aus einem Dorf in der Nähe der Stadt stammte und seit zehn Jahren mit Toni verheiratet war, kam an den Tisch. Sie notierte Pizza Hawaii und Pizza Funghi, für die Michael sich zuletzt entschieden hatte, und dann bestellte Steffi noch Rotwein. Schließlich war man beim Italiener.

Toni’s Bauernstube lag in der Mitte der Fußgängerzone, die jetzt, um acht Uhr abends, vollkommen leer war. Aus dem Fenster hatten Michael und Steffi einen ausgezeichneten Blick auf den Jeans-Shop, der genau gegenüber lag, und auf zwei der Bänke, die man zusammen mit einigen Blumenkübeln zum Stadtjubiläum vor ein paar Jahren aufgestellt hatte. Die Fußgängerzone sollte damit „um einiges attraktiver“ gemacht werden, hieß es damals in einem großzügig bebilderten Beitrag der Lokalzeitung. In den folgenden Wochen war in der Leserbriefspalte eine erbitterte Auseinandersetzung über die Frage geführt worden, ob die Verschönerungsmaßnahmen den Zugang zu einigen Geschäften erschwerten.

Die Zeit, in der das grundsätzliche Für und Wider einer Einrichtung wie der Fußgängerzone diskutiert wurde, war allerdings vorbei. Bereits in den späten Siebzigerjahren war nicht nur in unserer Stadt unter den Kommunalpolitikern die Einsicht gewachsen, dass man nicht nur Jahr für Jahr in der Umgebung neues Bauland ausweisen konnte, sondern auch ein Auge auf die Stadt selbst halten musste: „Die Menschen wollen schließlich in einer angenehmen Umgebung einkaufen.“

Da es in unserer Stadt keinen historischen Ortskern gab, sondern nur die Hauptstraße, an der der Großteil der Geschäfte lag, ersetzte man hier den Asphalt durch bunte Klinkersteine und stellte vor dem Rathaus mit den Mitteln der ebenfalls ganz in der Nähe liegenden Sparkasse einen Springbrunnen auf. „Autofreie Innenstadt“, „Tourismus“ und „Einkaufserlebnis“ waren die Stichwörter, mit denen unsere Kommunalpolitiker genau wie ihre Kollegen in den größeren Städten um sich warfen, und es gelang ihnen immer wieder, sich gegenseitig von der Dringlichkeit ihrer jeweiligen Anliegen zu überzeugen.

Nur anfänglich kam es zu Protesten der Geschäftsinhaber, insbesondere des Besitzers eines angestammten Modehauses, da seine Kunden nun nicht mehr wie früher direkt vor der Ladentür parken konnten. Das war ein echtes Problem. Das Modehaus bekam schließlich auf der Rückseite von der Stadt seinen eigenen Kundenparkplatz spendiert, und als dann die Ladenmieten in der Fußgängerzone plötzlich anzogen, mussten sich die restlichen Miesmacher ohnehin nach neuen Geschäftsräumen umsehen. Zwei neue Reisebüros kamen dazu, außerdem der Jeans-Shop. Aus der kleinen Eisdiele war jetzt das Eiscafé Venezia mit Stahlrohrmöbeln und schwarzen, achteckigen Kaffeetassen geworden.

Nachdem der eine der beiden angestammten Optiker sein Ladenlokal einer größeren Kette überlassen hatte, die angeblich unschlagbar preiswerte und dazu noch modisch aussehende Brillengestelle verkaufen sollte, war unsere Stadt vorerst am Ziel ihrer Wünsche angekommen. Auf den fünfhundert Metern der Fußgängerzone hatte sie sich aus dem Zeichenvorrat, den das Werbefernsehen bereithielt, das Bild einer modernen und weltoffenen Kleinstadt zusammengesetzt – eine Inszenierung, die mindestens genauso überzeugend war wie das italienische Ambiente in Toni’s Bauernstube.

„Soll es noch etwas zu trinken sein?“ – Steffi hatte fast die Hälfte ihrer Pizza liegen lassen und zündete sich jetzt an der Kerze eine Zigarette an. Michael fand, dass die Geste sehr erwachsen wirkte und gut zum Rotwein passte.

Erst redeten sie über die Schule, dann darüber, was sie danach so machen wollten. Das war ein beliebtes Gesprächsthema. „Studieren“, sagte Steffi, „oder was mit Menschen.“ Michael, der gerade eine Biografie von Steven Spielberg gelesen hatte, wollte sich an der Filmhochschule bewerben, „nach dem Zivildienst“. Sie waren beide siebzehn, und die Zeit, bis sie die Stadt verlassen würden, war überschaubar. „Das ist bestimmt interessant“, sagte Steffi, und Michael fiel erst einmal nichts mehr ein. In der Fußgängerzone traten langsam die sparsam beleuchteten Schaufenster aus der Abenddämmerung hervor. Später, wenn es richtig dunkel war, würde sich die Beleuchtung unter der Fontäne des Springbrunnens einschalten, obwohl niemand mehr durch die Fußgängerzone ging, der dieses kleine Wasserspiel hätte bewundern können.

Auch bei Tage wimmelte es hier nicht gerade von Menschen, unter anderem weil man für einen ausgedehnten Einkaufsbummel doch lieber über die Autobahn in die nächstgrößere Stadt fuhr. Die Fußgängerzone glich daher die meiste Zeit einer Filmkulisse während der Drehpause. Die sorgfältig dekorierten Schaufenster des Schuhgeschäftes und der daneben liegenden Apotheke schienen nur für die paar Sekunden eines kurzen Kameraschwenks zurechtgemacht.

Auch der Softeisautomat vor der Stadtbäckerei wirkte wie eine Attrappe. Vor dem Schreibwarengeschäft stand ein Drehständer mit einer Auswahl lustig gemeinter Ansichtskarten, die man in jeder anderen Stadt auch kaufen konnte, und auch das kleine Flugzeug, das vor dem Modehaus für die Kinder aufgestellt worden war, machte nicht den Eindruck, als ob es sich nach Einwurf einer Münze wirklich bewegen würde.

An regnerischen Tagen konnte man den Besitzer des Eiscafés Venezia dabei beobachten, wie er zwischen seinen Stahlrohrmöbeln stand und aus dem Fenster sah. Er schien darauf zu warten, dass jemand „Action“ rief und die nächste Szene beginnen würde. In Wirklichkeit wartete er vermutlich einfach nur darauf, dass es Herbst wurde und er sich für ein paar Monate aus unserer Stadt verabschieden konnte. Im Gegensatz zu Toni hatte der Besitzer des Eiscafés sich nämlich weder an das deutsche Wetter noch an die deutsche Mentalität gewöhnt und verbrachte die kalte Jahreszeit lieber mit eintöniger Fabrikarbeit in seiner Heimat.

„Leben, Teil 1“: Der Film, den Michael irgendwann in dieser Kulisse hätte drehen können, wäre wohl weitgehend ohne Handlung ausgekommen. Die Fußgängerzone war kein Ort, an dem sich Geschichten ereigneten. Als Michael und wir anderen noch zur Grundschule gingen, verbrachten wir die langen Sonntagnachmittage damit, mit dem Fahrrad um den noch neuen Brunnen zu kurven. Später standen wir stundenlang einfach nur herum und redeten über nichts, an das wir uns am nächsten Tag noch erinnern würden – wenn wir nicht gerade fernsahen.

Wir versteckten uns in dem Café der Stadtbäckerei, während wir die Schule schwänzten, oder verbrachten im so genannten Kaufhaus – einer Art erweitertes Haushaltswarengeschäftsmit Unterwäscheabteilung und Schreibwarenregal – ein paar Stunden vor dem überschaubaren Angebot mit langweiligen Schallplatten, die Mitte der Achtzigerjahre gegen genauso uninteressante CDs ausgetauscht wurden. Das Aufregendste, was einem hier oder in einem der anderen Geschäfte passieren konnte, war, dass man bei einem Ladendiebstahl erwischt wurde. Aber dafür musste man sich schon sehr blöd anstellen.

So lag die Fußgängerzone, die die engagierten Kommunalpolitiker ins Zentrum unser Kleinstadt gesetzt hatten, wie ein leeres Versprechen in der Mitte unseres Lebens. Einige unserer Freunde und Freundinnen, mit denen wir in den Kindergarten oder die Grundschule gegangen waren, hatten sich hier dennoch eingerichtet und aus der Leerstelle immerhin eine Lehrstelle gemacht. Sie schnitten Haare, verkauften Aspirin oder zahlten in der Sparkasse Geld aus, und bald würden sie nach ihrer Hochzeit im Rathaus vor dem Springbrunnen genauso wie all die anderen Paare vor ihnen ein Foto von sich machen lassen.

Das war dann das Bild, das am Anfang eines neuen Films stand: „Leben, Teil 2“ konnte beginnen – und würde sich vermutlich nicht allzu sehr von „Leben, Teil 1“ unterscheiden. „Und jetzt?“, fragte Steffi. Michael bezahlte.

Sie hätten ihre Fahrräder nicht unbedingt noch einmal in Richtung Springbrunnen schieben müssen, um zu bemerken, dass in der großzügig angelegten Fußgängerzone für romantische Gefühle oder gar Liebe kein Platz war – aber immerhin zwanzig Quadratmeter Ladenfläche zwischen Sparkasse und Stadtbäckerei für das Hochzeitsstübchen aufbewahrt worden waren: „Für den wichtigsten Tag in Ihrem gemeinsamen Leben …“ war auf dem Schild zu lesen, das neben zwei Kleiderpuppen in weißem Kleid und schwarzem Anzug stand und mit einem lachenden Schornsteinfeger verziert war.

Michael trug an diesem Abend immerhin ein Sakko, aber natürlich heirateten er und Steffi nicht. Stattdessen waren sie zwei Wochen lang ein Paar, und genauso wie diese Zeit in Toni’s Bauernstube begonnen hatte, so endete sie hier auch wieder: mit einem Gespräch, das ihnen beiden sehr erwachsen vorkam. Diesmal aß Steffi ihre Pizza ganz auf.

Später, als sie die Stadt längst verlassen hatten, sahen sich die beiden noch das eine oder andere Mal wieder, als gute Freunde, wie man so sagte. Steffi studierte jetzt BWL, und Michael, der mit seinen Filmplänen nicht wirklich weitergekommen war, war bei Theaterwissenschaften gelandet. „Auch interessant“, sagte Steffi, als sie sich gerade mal zufällig für ein Praktikum in der gleichen Stadt befanden und sich für einen Abend zum Essen trafen. Am liebsten redeten sie jetzt darüber, wie weit sie sich doch von zu Hause entfernt hatten. „Keine Ahnung, wie man es dort so lange aushalten konnte“, sagten sie, und vielleicht fanden ihre mit der Zeit seltener werdenden Treffen auch darum fast immer in Pizzerien statt, die in den großen Städten oft auch nicht anders aussahen als Toni’s Bauernstube.

Der Unterschied war nur, dass sie inzwischen gelernt hatten, sich über den aufgesetzten südländischen Charme der Kellner lustig zu machen: „Irgendwie provinziell, oder?“

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