: Muss Schröder im Winter weg?
Es hat in der jüngeren deutschen Geschichte lange kein Thema gegeben, das so erregt diskutiert, so sorgfältig analysiert wurde wie die derzeitige Krise des Fußballclubs FC Bayern München. Viele denken, das sei normal. Kaum einer fragt: Haben wir Deutschen keine anderen Sorgen? Im Gegenteil: Wer genauer hinsieht, erkennt, dass es nur vordergründig um den FC Bayern geht, um Zerstreuung, Häme, Schadenfreude. Im Unterbewusstsein diskutiert die geschockte und verängstigte Bevölkerung nichts weniger als die Zukunft des Landes – und die ihrer Regierung.
Fakt ist: Nur wenige Wochen nach der Bundestagswahl hat der FC Deutschland die größte Pleite aller Zeiten hingelegt. Der FC Bayern kann immerhin noch eine Führungsrolle in der Bundesliga beanspruchen – Deutschland aber hat selbst auf dem nationalen Markt die Führung verloren. Viele fragen: Muss Schröder schon im Winter weg? Muss Dr. Edmund Stoiber – wie er schon am Wahlabend fürchtete – „noch vor Jahresfrist eine neue Regierung bilden“?
1 Die „Schande“
Der FC Bayern hat diesen Herbst „ein mickriges Pünktchen“ (Bild) in der Champions League geholt. Letzter in Europa. Nichts im Vergleich zum FC Deutschland: Wir haben gar keinen Punkt geholt. Wir verpassen sogar die europäische Verschuldungsgrenze (3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts). Wir haben bei den Entscheidern (USA) sämtliches Renommee eingebüßt. Die Pleite von La Coruna? Ein Klacks gegen das Rentendebakel, das arbeits- und sozialpolitische Chaos. Selbst das Hartz-Konzept gilt mancherorten schon als Fehleinkauf. Da hat selbst ein Pablo Thiam mehr Zukunft als die Koalitionsbeschlüsse.
2 Das Problem
Der Anspruch (Führungsrolle in Europa) und die Realität (9,5 Prozent Arbeitslose) decken sich nicht. Grund: Gegen den deutsche Arbeitsmarkt ist sogar die Innenverteidigung des FC Bayern gut organisiert. Damit ist man nicht wettbewerbsfähig. Inzwischen haben uns selbst die Briten abgehängt. Das ist wirklich „eine Schande“ (Karl-Heinz Rummenigge). Die Exportnachfrage nach deutschen Produkten geht doch derzeit gegen null. Verständlich: Wer will schon einen Linke, Fink oder Zickler haben? Da muss man Anreize schaffen. Oder schlicht besser werden.
3 Die größten Fehler
Wurden „in der Stunde des größten Triumphes“ begangen. Man hätte „den Trainer oder Leistungsträger auswechseln müssen“. Aber „mit dem Sieges-Schampus in der Hand hatte niemand den Mut dazu“ (Bild). Im Gegenteil: Manch Wähler freute sich auch noch. Dabei weiß jeder Laie, dass sich ein Trainer nach vier Jahren verschlissen hat. Spätestens. Noch schlimmer: Der neue, alte Trainer wechselte dann die (vermeintlichen) Leistungsträger nicht aus. Oder zu spät. Wie Hitzfeld in La Coruna. Die Folge: Stillstand. Die Autorität des Trainers hat gelitten („Ach, der wieder“). Früher (Brandt/Wehner) hat man sich „auch mal angeschrien“. Heute „sitzt man da und sagt nichts“ (Beckenbauer).
4 Der Führungsspieler
Okay, Schröder vermittelte den Eindruck, mit Wolfgang Clement einen neuen Superspieler gefunden zu haben. Bei Michael Ballack (ehemals Bayer Leverkusen) sah es am Anfang auch nett aus. Aber: Europas große Gegner waren eine Nummer zu groß für ihn. Und letztlich war er doch schon in Nordrhein-Westfalen nur ein notorischer Verlierer. Nein: Es fehlen die „harten Kerle“ (Bild). Sie sind verloren gegangen (Effenberg, Däubler-Gmelin).
5 Der Titan
Es gab einmal einen, der war wohl etwas schrullig. Aber er konnte aus dem Nichts einen Erfolg machen – kraft seines eisernen Willens. So erschienen seine klitzekleinen Marotten und Pedanterien plötzlich liebenswert. Und er wurde erhoben in den Rang eines „Titanen“. Und heute? „Er gibt wirre Interviews“ (Bild). Und wenn er sich mal wieder einen selbst reingetan hat, sagt er auch noch mit irrem Blick: „Ist mir doch scheißegal.“
Deutschland fragt sich (1.): Was ist nur mit Hans Eichel los? Und (2.): Besteht womöglich ein Zusammenhang mit der rational kaum nachzuvollziehenden Entscheidung des Kanzlers, den vormals uneingeschränkten Führungsspieler vor versammelter Mannschaft zu demontieren („Jetzt hör aber mal auf, Hans!“)?
6 Der Fan
Was kann der Fan des FC Deutschland tun, wenn es nicht läuft? Gut, er kann ein paar Trikots mehr kaufen (die Wirtschaft ankurbeln!). Falls es seine Arbeitslosenunterstützung überhaupt hergeben sollte. Letztlich hat er da aber sowieso keinen Einfluss. Auf keinen Fall sollte er sich Vorwürfe machen. Oder aufhören, italienische Krustentiere zu schlemmen. Oder sich gar auf die deutschen Tugenden besinnen (harte Arbeit, Disziplin, Kampf usw.). Das wäre defaätistisch, antieuropäisch, gewerkschaftsfeindlich und letztlich purer Aktionismus, der nichts bringt.
7 Die letzte Rettung
Der Bundespräsident. Mag ja sein, dass Schröder und Fischer sich insgeheim bzw. offen über den Bundespräsidenten lustig machen. So wie die Bayern-Macher Rummenigge und Uli Hoeneß über ihren Aufsichtsratsvorsitzenden Franz Beckenbauer. Mag ja sein, dass es das Tagesgeschäft erheblich erleichtert, wenn man einen notorischen Brabbelbruder ins Repräsentative abgeschoben hat. Aber: War es nicht gerade Beckenbauers berühmte Lyon-Rede, durch die der FC Bayern die Champions League gewann? Mit einer ähnlich „Wutrede“ könnte Johannes Rau sich endlich ins Zentrum des Geschehens katapultieren, die Gesellschaft und vor allem die Regierung aufrütteln. Mit harten, aber in der Sache richtigen Sätzen wie: „Sucht’s euch einen anderen Beruf, ihr Pflaumen!“, sollte er den abgebrühtesten Profi oder die argloseste Ministerin nachdenklich stimmen. Womöglich sogar sich selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen