: Sympathien für den Teufel
Zeiten der Verschwörung, Zeiten des Wahns: Mit seiner Inszenierung von Bulgakows verschachtelter Romansatire „Der Meister und Margarita“ setzt Frank Castorf an der Volksbühne seine Bearbeitung der russischen Klassiker fort
Der Teufel kommt und zappelt mit den Beinen in der Luft. Mit schwarzem Hut und weißer Krawatte sieht er aus wie ein Gangster aus einem B-Picture. Er schleppt seinen eigenen Thron mit, einen Stapel weißer Gartenstühle, und wie er x-beinig darunter schwankt, ahnt man schon, dass Souveränität eine mühsame Sache ist. Henry Hübchen spielt den Teufel, den Artisten Voland, den Spitzel, den Spezialisten für schwarze Magie und Verschwörung, und welche der Rollen er hier mit welcher tarnt, weiß man schon in Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ nicht so genau. Er springt da also auf den Stapel Stühle und sieht plötzlich etwas kurzbeinig, kurzhalsig aus. Kein Wunder, dass der Dichter Besdomny und der Redakteur Berlioz sich von seinen Reden erst mal nicht beeindrucken lassen wollen.
Auch Besdomny und Berlioz reichen mit ihren Füßen nicht bis auf den Boden. Sie hängen auf hohen Barhockern, die Füße zum Halt um Stangen geschlungen, und suchen nach dem wissenschaftlichen Beweis für die Nichtexistenz Gottes. Alles nur Mythen, alles nur Legenden, sagen sie sich als aufgeklärte Atheisten, und dass der Teufel nun selbst aus dem Reich der Legenden gekommen ist, um ihnen das Gegenteil zu beweisen, glauben sie schon gar nicht. Nützt ihnen nichts. Er weiß trotzdem, dass einer von ihnen gleich seinen Kopf verlieren wird.
Später wird es einen Ball geben in der Wohnung des Toten, die der Teufel besetzt hat. Da werden alle mit den Beinen in der Luft zappeln wie die Käfer. Man sieht sie in gekippten Spiegeln und weiß nicht, schaut man auf sie hinunter oder zu ihnen hinauf. Aber dass ihnen der unverbrüchliche Boden der Realität und die Linearität der Zeit abhanden kamen, das ist jetzt raus.
Als doppelbödige Satire auf die Stalinzeit hat man Bulgakows Roman „Der Meister und Margarita“ gelesen, aber doppelbödig reicht nicht. Die Verschachtelung von vorher und nachher, von Realität, Maskerade und Wahn lässt das Buch als Vorgriff auf Theorien von Paralleluniversen und die Konstruktion der Realität aus der Wahrnehmung erscheinen. Das macht den Stoff für Frank Castorf und sein Team so attraktiv. Jedem gehören in dem Stück mindestens zwei Rollen, einmal in der Szene der Moskauer Literaten, und einmal in dem Roman über Jesus und Pontius Pilatus, an dem einer von ihnen, der „Meister“ genannte Dichter, schreibt. Die Rollen aber färben ab. Sie nehmen von den Erfahrungen der einen Welt immer ein bisschen in die andere mit.
Zugegeben, man verliert dabei den Überblick: aber wahrscheinlich ist das genau jener Erfahrungswert, auf den Castorf bei seiner Suche nach Stoffen, die komplexer sind als auf der Bühne verhandelbar, aus ist. Der Verräter, der da vorne gleich erstochen wird, wenn der Teufel nur endlich mal sein Messer im unaufgeräumten Küchenschrank findet, war der nun unter Pontius Pilatus Spitzel oder in der Künstlerkolonie Moskaus? Er blutet aus, bevor sich die Sache geklärt hat.
Dabei weiß man mehr, als man denkt. Die Zeit läuft vor, die Zeit läuft zurück. Wir sehen Blut in der Dusche lange vor dem Mord, wir hören ein Gespräch Jeschuas mit Pilatus, noch bevor sie auftreten, als Streit zwischen zwei Billardspielern. Als wäre die Sache nicht schon kompliziert genug, verschieben sich Dialoge zwischen den Erzählebenen. Im Roman konnte nur der Teufel vorausschauen, im Theater können wir es alle, nur wissen wir es nicht.
Die Inszenierung, die im Juni bei den Wiener Festwochen Premiere hatte, wirkt oft wie eine Durchgangsstation vom Roman zum Film. Lange Sequenzen sind auf einer Leinwand über der Bar zu sehen: die Szenen aus Jerusalem, die Geschehnisse hinter den Türen der psychiatrischen Klinik, in der sich fast alle im Bett oder unter der Dusche treffen, die Kellerwohnung des Dichters. Manchmal geraten Bilder aus Polanskis „Rosemary’s Baby“ dazwischen, manchmal triumphieren der Teufel und Pilatus, manchmal fragen sie sich auch verzweifelt, wo sie hier eigentlich gelandet sind.
Das Erstaunliche aber ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihr Wandeln zwischen den verschiedenen Systemen verkörpern. Sie verlieren in dieser absurden Geschichte nie an Glaubwürdigkeit. Ihr Witz ist nie abgestanden. Viele Szenen wirken wie aus der Improvisation entwickelt, aber der Text stammt tatsächlich immer wieder von Bulgakow. Seine Satire passt eben auch heute auf die tägliche Anstrengung, sich der vereinbarten Realität anzupassen. KATRIN BETTINA MÜLLER
„Der Meister und Margarita“, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die nächsten Vorstellungen: 12., 22., 23. und 30. November, 19 Uhr
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