Ein Gehirn auf Abwegen


„Untersuchungen ohne Zustimmung der Angehörigen halte ich für unethisch“

aus Magdeburg CHRISTIAN FÜLLER

Was den alten Herrn in Tübingen wirklich nervös macht: Er kann nun nicht mehr in Ruhe weiterforschen. Der Hirnforscher Jürgen Peiffer, 80 Jahre alt, ist seit langem emeritiert. Auf das Labor eines Kollegen in Magdeburg ist er angewiesen, um seinem wohl spektakulärsten Fall nachzugehen: das Hirn der „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF) zu untersuchen, das Hirn von Ulrike Meinhof.

Seit letzten Freitag aber ist ein wilder Medienrummel entstanden. Die letzten Untersuchungen, für diesen Dezember geplant, werden nun von Fragen, Vorwürfen und Anzeigen durchkreuzt: Was machen Sie mit dem Kopf von Ulrike Meinhof?, will die Nation von dem Tübinger Neuropathologen Peiffer wissen. Gestern erreichten die unangenehmen Fragen auch seinen Kompagnon in Magdeburg, den Facharzt für Psychatrie Bernhard Bogerts: Warum sind Sie überhaupt im Besitz des Hirns von Ulrike Marie Meinhof? Warum machen sie eine Frau verrückt, die schon seit 26 Jahren auf dem Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof ihren Frieden gefunden haben sollte?

„Das Gefühl, das Gehirn schrumpelte einem allmählich zusammen wie Backobst z. B.“, schrieb Ulrike Meinhof 1972/73. Damals saß sie bereits in Isolationshaft, im „toten Trakt“ von Köln-Ossendorf. „Man kann nicht erklären, ob man vor Fieber oder vor Kälte zittert (…) das Gefühl, man verstummt – man kann die Bedeutung von Worten nicht mehr identifizieren. (…) Besuche hinterlassen nichts. Eine halbe Stunde danach kann man nur noch mechanisch rekonstruieren, ob der Besuch heute oder vorige Woche war – einmal in der Woche baden dagegen bedeutet: einen Moment auftauen (…).“

Die Staatsanwälte deuteten solche Sätze Ulrike Meinhofs schon damals als Anzeichen von Wahnsinn. Ihre Anwälte führten sie auf die räumliche und akustische Isolierung zurück. Der Professor aus Magdeburg nimmt in dem Streit heute eine Fifty-Fifty-Haltung ein: Meinhofs Sätze zeigten, erklärte Bernhard Bogerts gestern zur allgemeinen Überraschung, dass Isolationshaft und Hirnschädigung „zu gleichen Teilen zu der psychologisch eindrucksvollen Schilderung beigetragen hätten“.

Zu diesem Zeitpunkt, in der Haft, war die 37-jährige Ulrike Meinhof als Terroistin angeklagt. Sie hatte sich der RAF angeschlossen. 1970 half sie, Andreas Baader aus der Haft zu befreien. Zwei Jahre später nahm sie an der „Mai-Offensive“ der RAF teil – darunter Attentate auf das IG-Farben-Gebäude in Frankfurt und das Polizeipräsidium in Augsburg. Im Juni 1972 wurde Meinhof gefasst. Vier Jahre später, der Prozess gegen sie und andere in Stuttgart-Stammheim lief auf Hochtouren, fand man sie erhängt in ihrer Zelle. Es war der 9. Mai 1976 – das Ende Ulrike Meinhofs und der Anfang von Jürgen Peiffers Forscherehrgeiz.

Der Neuropathologe bekam Meinhofs Gehirn in sein Institut für Hirnfoschung an der Uni Tübingen, um die Todesursache zu bestimmen. Der Staat nämlich musste und wollte beweisen, dass er den politisch interessantesten Kopf der RAF nicht ermordet hatte – wie nicht nur Strafverteidiger insinuierten. Für Peiffer aber waren die pathologischen Befunde viel interessanter als die staatskriminologische Frage, ob die Meinhof sich selbst gerichtet hatte. Ihr Gehirn war ein Sonderfall – allein schon wegen der Morphologie, der Beschaffenheit des Gewebes.

Peiffer fand bei Ulrike Meinhof einen Blutschwamm im Kopf, eine mit bloßem Auge erkennbare Veränderung, die bei einer Kopfoperation im Jahr 1962 nicht optimal behandelt worden war. Für Peiffer waren die Ausformungen der grauen Masse eine politische Sensation. Er konnte nun die Frage aufwerfen, wie „vernünftig“ Ulrike Meinhof eigentlich war. „Wenn sie zu Lebzeiten untersucht worden wäre“, erinnert sich der Forscher, „wäre zweifellos die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit gestellt worden.“ Kann man Ulrike Meinhof deswegen im Nachhinein für verrückt erklären? „Was wäre daran so falsch“, fragt Peiffer begeistert zurück, „sie war zweifellos hirngeschädigt.“

Peiffers heutige Begeisterung ist nur aus dem 26 Jahre langen Ärger zu verstehen, den er beim Wiederlesen seines Gutachtens empfand. Obwohl er seine Befunde schon 1976 ans Licht der Öffentlichkeit brachte, blieben sie weitgehend unbeachtet – aus „nachvollziehbaren Gründen“, wie Peiffer meint. Denn für RAF-Anwälte und „linke Medien“ durfte „der Heros der RAF nicht krank sein“.

Seitdem wartet Peiffer auf seine zweite Chance. 1997 kam sie. Da hörte der emeritierte Tübinger dem Magdeburger Bernhard Bogerts zu, als der einen ähnlich gelagerten Fall schilderte: den des Mehrfachmörders Ernst August Wagner. Der hatte 1913 seine Familie und etliche Bewohner seines Heimatdorfes getötet. Bogerts führte Wagners Anfall von Raserei auf eine spezielle Schädigung des Hirns zurück. Den Lehrer drückte im Hirn etwas auf den Mandelkern. Der steuert das emotionale Zentrum des Gehirns, Aggressionen und Realitätsinterpretationen etwa.

Jürgen Peiffer erinnerte sich seines Gutachtens, und schon hatte Bernhard Bogerts eine ideale Vergleichsperson für ihre jeweiligen Fälle. Nicht weil die politisch motivierte mutmaßliche Mörderin Meinhof mit einem Vielfachmörder gleichzusetzen wäre. Aber: Die Struktur der Hirnschädigung ist für die Forscher die gleiche. Und, so Peiffer, „weil es beides Hirne von Menschen sind, die aus der normalen Richtung entgleist sind“.

Zum Leidwesen des 80-Jährigen war sein Kollege leider allzu vorsichtig. Erst fasste er Meinhofs Hirn nicht an – aus Rücksicht auf hochrangige politisch handelnde Personen und aus Furcht vor der Sympathisantenszene. Dann kam der Spiegel – die „Laienpresse“, wie Bogerts bekümmert anmerkt. Und nun weigert sich der Psychiater partout, ein „böses Gehirn“ von einem „guten Gehirn“ pathologisch unterscheidbar zu machen – so wie es sich die Boulevardpresse wünscht.

Ulrike Meinhof, so Bogerts’ Argument, hätte aufgrund des Drucks, den der Blutschwamm auf den Mandelkern in ihrem Hirn ausübte, möglicherweise unter einer „erhöhten und unkontrollierbaren Aggressivität“ gelitten. Sie müsste Probleme mit „ihrer emotionalen Steuerung“ gehabt haben. Es habe ihr wohl auch an einer „adäquaten Realitätsinterpretation“ gefehlt, sagt Bogerts. Das ließe sich vor allem ihren letzten Texten entnehmen.

„Antiimperialistischer Kampf, wenn das nicht nur ein hohle Phrase sein soll, zielt darauf, das imperialistische Herrschaftssystem zu vernichten“, schrieb Ulrike Meinhof in der Haft. Das „heisst im internationalen Rahmen: Vernichten der Militärbündnisse des US-Imperialismus rund um die Erde, hier: der Nato und der Bundeswehr; im nationalen Rahmen: der bewaffneten Formation des Staatsapparates, die das Gewaltmonopol der herrschenden Klasse … verkörpern – hier: Polizei, Bundesgrenzschutz, Geheimdienste.“

Für RAF-Anwälte und „linke Medien“ durfte „der Heros der RAF nicht krank sein“

Meinhof hatte ganz reelle, schlechte Erfahrungen mit den Sicherheitsbehörden gemacht: Die Justiz hatte 1973 versucht, sie für verrückt zu erklären. Die Bundesanwaltschaft beantragte die Untersuchung ihrer Zurechnungsfähigkeit – notfalls zwangsweise. Der Plan misslang damals. Heute beginnt die Staatsanwaltschaft zu lachen, wenn man Peiffers und Bogerts’ Untersuchungen an Meinhofs Hirn in diesen Zusammenhang stellt. „Das Gehirn“, sagt Gerhard Maak, seit einem Jahr Pressesprecher der Staatsanwaltschaft in Stuttgart, „wird nicht mit unserem Wissen und in unserem Auftrag erforscht.“

Aber das Gehirn ist weg, verschwunden aus dem Verfügungsbereich der Ankläger des Staates. Es liegt in Magdeburg. „Wenn das Asservat sich verselbständigt hat“, bemerkt Maak dazu, „dann müssen wir prüfen, es zurückzuholen.“ Das Asservat ist das Gehirn. Geforscht wird daran erst seit diesem Jahr, und selbst darüber hätte die Staatsanwaltschaft Bescheid wissen können.

Im August dieses Jahres landete nämlich ein Brief von Peiffer bei den Staatsanwälten. Darin fragte der Tübinger Professor, ob die Staatsanwaltschaft etwas dagegen habe, wenn er, Peiffer, sein Wissen in eine neue Publikation einbringe. Das Hirn selbst, das Präparat, erwähnte er sicherheitshalber nicht. Die Staatsanwälte schrieben zurück, es bestünden „aus ermittlungstechnischen Gründen keine Einwände“. Die Forscher möchten aber bitte Meinhofs „Persönlichkeitsrechte eigenverantwortlich beachten“.

Peiffer ist sich des Tricks bewusst, den er bei den Staatsanwälten anwendete. Dass auch das Hirn für die Forschung gebraucht würde, sei schließlich seine „logische Konsequenz der Anfrage“ gewesen. Die Ankläger des Staates aber suchen nun, seitdem das Hirn in der Presse ist, erfolglos in ihren Akten nach Verfügungen für das Meinhof’sche Gehirn. Und sein Professorenkolleg will sich ganz darauf verlassen haben, dass mit dem schriftlichen Auftrag, den ihm Peiffer erteilt hatte, rechtlich alles im Lot gewesen sei. Nur der Emeritus aus Tübingen lacht sich ins Fäustchen. Er sieht sich aus ganz anderen Gründen als legitimen Besitzer des Hirns. „Es ist letztlich die Entscheidung des Wissenschaftlers“, sagt Peiffer, „das Hirn erneut zu untersuchen. Es gibt kein Bundessektionsgesetz. Ich bedauere das auch.“

Für den Mann ist es ganz normal, dass das Hirn auch nach 1976 in seinem Institut in Tübingen in der Asservatenkammer geblieben sei. Es hatte sich niemand gemeldet, der das in sehr dünne Scheiben sezierte Hirn haben wollte – der Exmann von Ulrike Meinhof nicht, ihre Zwillingstöchter Regine und Bettina waren noch viel zu jung, um Ansprüche zu erheben. Und der Staat, dessen Gerichtsmedizin formell der Besitzer des Hirns war, hat es vergessen, möglicherweise. Nur der Vorsitzende der Ethikkomission in Magdeburg weiß genau, um was es geht: „Weitere Untersuchungen ohne Zustimmung der Angehörigen halte ich für unethisch.“ Schließlich sei das Hirn nicht ordnungsgemäß nach Magdeburg gelangt. Die Töchter verlangten gestern ausdrücklich die Beerdigung.

In Stuttgart ist inzwischen auch der Generalstaatsanwalt auf das verschwundene Hirn von Ulrike Meinhof aufmerksam geworden. Er hat seine Kollegen gebeten, ihn, die vorgesetzte Behörde, zu informieren. Das berichtet sein Sprecher ganz gelassen. Unruhig wird er erst, als Meinhofs Todesursache von 1976 zur Sprache kommt. „Da werde ich richtig kratzbürstig“, entfährt es ihm. Es sei eindeutig geklärt, faucht der eben noch so gut gelaunte Herr, dass sich Frau Meinhof selbst erhängt habe. Und droht mit Gesprächsende. Immerhin: Die Anzeige einer Tochter von Ulrike Meinhof wegen „Störung der Totenruhe“ ist eingegangen. Jetzt muss man tätig werden.