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Schreiend süße Erinnerungen

Wer sich vor 15 Jahren in der Provinzdisko dazu küsste, bewies Geschmack: Leicht angegraut gastieren die einstigen Straßenmusiker „Violent Femmes“ mit ihrem scheppernden New-Wave-Folk in der Fabrik

Die ersten Jahre sind am stärksten haften geblieben

von MARC PESCHKE

Die Violent Femmes waren ihrer Zeit immer schon voraus. Ganze zehn Jahre, bevor Beck mit der Zeile „I‘m a loser baby, so why don‘t you kill me“ einem Zeitgefühl der Popkultur Ausdruck verlieh, inszenierte sich die Band aus Milwaukee als nihilistische, Nerven aufreibende Verlierertruppe. “I‘m nothing now and I‘ll be nothing when this nothings world has it‘s nothing end“, sangen sie nach einem langen, konzentrierten Blick in den Spiegel. Und standen doch gleichzeitig fest und fröhlich auf uramerikanischem Boden.

Seit 1983 entstanden Alben, die allesamt aus der großen amerikanischen Singer/Songwriter-Tradition schöpften. Zwar gönnten sich die Violent Femmes einige Ausflüge in die Weiten experimenteller Musik, vor allem auf einigen späten Veröffentlichungen – doch im Grunde sind sie über die Jahre die alte Straßenband geblieben, die Anfang der 80er Jahre mit Brian Ritchies treibendem Akustik-Bass, Westerngitarre, Mundharmonika, Waschbrett, Maultrommel und dem mobilen, schepperndem Snare-und-Besen-Standschlagzeug von Victor de Lorenzo vor Warteschlangen aufspielte. Meistens waren die Kino- oder Theaterbesucher begeistert – und einige Cent für den nächsten Satz Saiten waren der Lohn für die Mühe.

Noch einmal sind die legendären Männer jetzt auf Konzertreise gegangen, um ihre Zuschauer in süßen Erinnerungen schwelgen zu lassen. Das erste Album war in den mittleren Achtzigern für viele die Offenbarung und ein Muss beim Wiegeschritt in der Provinzdisko. Im vergangenen Sommer ist es in einer – vollkommen unnötigen – Luxus-Edition als Doppel-CD erschienen. Davon war damals noch nicht die Rede, glücklich und geschmackssicher waren die, auf deren Plattenspieler sich diese großartige Platte drehte. Wer dazu gut tanzen konnte, den umgab eine Aura des Verruchten. Wer sich dazu küsste, hatte Geschmack. Sie zu kennen, war Luxus genug. Wo gab es so etwas sonst? Die drei Musiker um Gitarrist und Sänger Gordan Gano brachten damals das Kunststück fertig, eine Brücke zu schlagen zwischen ihrer American Music, zwischen Gospel, Country, Folk und Blues – und dem wegwerfenden Gestus von Punk und New Wave. Intellektuell und verschroben, traditionsbewusst und doch so in Flammen, als ob es kein Morgen gäbe.

Aus diesem Antagonismus sogen sie ihre legendäre Beseeltheit – und meistens klang es, als säße der Leibhaftige auf Ganos Schultern. Denn über die Schmerzen der Welt zu klagen, über die Hölle auf Erden, ist bis heute die Spezialität Gordon Ganos. Und er tut es wie immer schon, nölt ins Mikrofon, klagt und zetert in der Art eines besessenen Wanderpredigers – und singt davon, wie sich dieses Hundeleben anfühlt, wie sich das anfühlt, wenn der Teufel auf der Schulter sitzt und grinst. Ganz genau so nämlich: wie eine wunde Brandblase in der heißen Sonne, wie „Blister In The Sun“.

In der Fabrik werden sich Violent Femmes durch ihre eigene Geschichte spielen – deren Folgen für die Popmusik bis heute nachklingen, wie die Londoner Band Hefner im Vorprogramm der letzten Deutschlandtour zeigte. Erst in der Retrospektive wird deutlich, dass die Songs der ersten Jahre am stärksten haften geblieben sind: Die Düsternis von „Gimme The Car“, die Wärme bei „Good Feeling“, die Überschlagenheit von „Blister In The Sun“ und die Aggression von „Add It Up“, das ist später seltener geworden. Aber auch diesmal wird Gordon Gano wieder fragen: „Do you like american music?“ Und das Publikum wird wie immer antworten: „We like american music!“

Und wenn Gano später „Why can‘t I get just one fuck?“ schreit, dann werden alle wie immer zurückschreien. Und im nächsten Moment werden alle ganz still sein, weil sie sich fragen, wo die Jahre geblieben sind. Und draußen, in dieser viel zu kalten Novembernacht, werden sich alle darüber aufregen, dass es so etwas heute irgendwie nicht mehr gibt.

Dienstag, 21 Uhr, Fabrik

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