: Recht auf Zufall
Die GEW lud zur Diskussion über Biomedizin, es kamen ihre Gegner. Doch die haben gute Gründe: Sie halten die Diskussion für realitätsfremd. Behinderte fürchten um ihre Akzeptanz
von SANDRA WILSDORF
Die Hoffnung ist Zukunft, die Vernichtung Gegenwart: So bringt Michael Wunder den Stand der Biomedizin auf den Punkt. Der Leiter des Zentrums für Beratung, Diagnostik und Psychotherapie der Evangelischen Stiftung Alsterdorf referierte auf Einladung der Fachgruppe Sonderpädagogik der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) über Gegenwart und mögliche Zukunft durch Präimplantations- und Pränataldiagnostik, Stammzellenfoschung und Reproduktionsmedizin. Die Gewerkschaft müht sich um eine Position in dieser Frage, hatte zur Diskussion allerdings nur Kritiker geladen – neben Wunder, Stefan Romey, Lehrer an einer Schule für geistig Behinderte, Andreas Schultheiß vom Pädagogisch-Theologischen Institut und Gerlef Gleiss von „Autonom Leben“.
Für Gleiss ist völlig klar, dass die Diskussion über Biomedizin zwar die Behinderten im Besonderen, eigentlich aber die ganze Gesellschaft angeht: Über Biomedizin werde immer im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Leid diskutiert. „Wir Behinderte werden dabei instrumentalisiert, betroffen sind wir insofern, als es um unsere Lebensqualität und Akzeptanz geht.“ Dahinter stehe die Frage: „In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?“
Eine kleinwüchsige Frau weist darauf hin, dass oft die Eltern mehr unter der Behinderung ihres Kindes litten als das Kind selbst. Bei ihr war das so: „Ich sollte so aussehen, wie die anderen auch.“ Sie war neun, als die Mutter sie fragte, ob sie ein Medikament nehmen wolle, dass sie vielleicht groß machen, vielleicht aber auch töten würde. „Ich habe habe mich fürs Kleinsein und Leben entschieden.“
Wunder, der Mitglied der Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ des Bundestags war, beobachtet eine „Eugenik von unten“: Seit 1976 die Pränataldiagnostik – zunächst unter scharfen Restriktionen – eingeführt wurde, nutzen immer mehr Eltern sie. 1976 unterzogen sich knapp 2000 Frauen den Prozeduren, zu denen auch die Fruchtwasseruntersuchung gehört, heute sind es 100.000 Frauen pro Jahr. Gerlef Gleiss sagt das so: „Ein Kind mit Down Syndrom hat ja heutzutage Glück, wenn es geboren wird.“
Für Wunder zahlt die Gesellschaft einen hohen Preis für die vage Hoffnung, mit Hilfe der Biomedizin Krankheiten wie Parkinson, Multiple Sklerose und Krebs heilen zu können. Er hält die Diskussion für fehlgeleitet: Eine Untersuchung der Bewohner der Stiftung Alsterdorfer habe ergeben, dass nur vier Prozent der Behinderungen genetisch bedingt seien. Die meisten sind kurz vor, während oder nach der Geburt entstanden. Wunder fordert „das Grundrecht auf den genetischen Zufall“ als moderne Form des Grundsatzes der Behindertenbewegung „wir sind gleich durch unsere Verschiedenheit“.
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