das längste verlängerte wochenende aller zeiten von CORINNA STEGEMANN
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Ein wunderschönes verlängertes Wochenende sollte es werden, unsere erste gemeinsame Reise. Silvester stand vor der Tür. Ich hatte die schöne Idee, man könne vielleicht nach Transsilvanien fliegen und sich dort auf den Spuren Draculas ein wenig gruseln, abends vor dem Kamin gemütlich kuscheln, am Silvesterabend um zwölf die Korken knallen lassen und die Nacht mit den Eingeborenen auf Kapartisch durchfeiern – so stellte ich mir das vor. Doch Ulf wollte nach Mecklenburg-Vorpommern. Er war Doktor der Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Altgotische Holzfiguren, und in dem Örtchen Güstrow gab es ein paar dieser Figuren, die er unbedingt vermessen, fotografieren, beschnuppern und registrieren wollte. Also gut, dann nicht Transsilvanien.

Kaum waren wir glücklich in Güstrow angekommen, ging es los: Die Ferienwohnung war Scheiße, fand Ulf. Er bekam schlechte Laune und behielt sie. Am Abend gingen wir aus, ich wollte Spaß und Romantik, er muffelte mich an.

Für den nächsten Morgen war die Holzfiguren-Safari geplant. Die begehrten Trophäen befanden sich im Güstrower Dom. Der war jedoch abgeschlossen. Glücklicherweise befand sich der „Bischofssitz“ direkt gegenüber. Der Bischof war ein netter Herr und schloss den Dom auf. „Aber nur bis zwölf, dann kommt der Küster und schließt wieder ab.“ Es war grad zehn, und ich dachte: „Na ja, zwei Stunden kann ich das wohl interessant finden.“

Ulf begann sein Werk, vermaß, fotografierte, registrierte, dokumentierte, beschnupperte und bestaunte Holzfiguren, Bilder und Altarschnitzereien. Nach einer Stunde wurde mir langweilig, es war bitterkalt, die Minuten zoooooogen sich in die Länge, sie verlängerten sich ins Unendliche – aber weggehen wollte ich auch nicht, ich wollte Interesse zeigen, und ich hätte eh nicht gewusst, wo ich hätte hingehen sollen. Es war erst der zweite Tag unseres verlängerten Wochenendes, und ich wünschte mich schon heim.

Nach einer Ewigkeit kam endlich der Küster, um uns rauszuwerfen. „Ich geh jetzt Mittag machen, sind Sie hier fertig?“ Ich atmete auf, aber dann: „Ich würd hier gern noch weitermachen, geht das?“, fragte Ulf. „Ja, aber ich schließe hier trotzdem ab, und ich komme erst in drei Stunden zurück, um wieder aufzuschließen. Wenn Sie hier bleiben wollen, sind Sie hier drei Stunden eingeschlossen.“ Gesagt, getan. Wir waren eingeschlossen!

Ulf vermaß jedes Fitzelchen im Dom nach Länge, Breite und Dicke. Ich war halb erfroren und traurig, weil ich wusste, dass wir uns trennen würden. Ich ahnte, dass wir den Silvesterabend im Dom verbringen würden, dass Ulf das Feuerwerk fotografieren würde, dass er danach sofort schlafen gehen wollte, um morgens früh zu einer langen, langen Wanderung aufzubrechen, während der er von nichts anderem als von seiner Exfreundin erzählen würde. Ich ahnte, dass es unser letzter Abend an Silvester war, und ein gewaltiger Tränenfluss ergoss sich in den Dom von Güstrow.

Niemals zuvor oder danach erlebte ich ein längeres Wochenende.