: Auf dem Friedhof der Geschichte
Im Jahre 1966 ermordete Demetrios Tsafendas den damaligen Premierminister von Südafrika: Henk van Woerden erzählt in seinem biografischen Buch „Der Bastard“ die Geschichte des Attentäters – und zeichnet dabei die Psychopathologie eines ganzen Landes nach. Handelte Tsafendas in Notwehr?
von KARSTEN KREDEL
Moderne Gesellschaften sind besessen von der Idee der Zugehörigkeit. Der Einzelne wird erst in der Gemeinschaft sichtbar. Er ist nichts ohne seinen Pass.
Demetrios Tsafendas besaß im Laufe seines eigenartigen und tragischen Lebens ausschließlich provisorische Pässe, und viel häufiger stand sein Name auf Listen unerwünschter Personen. Am 6. September 1966 betrat er den Plenarsaal des Parlamentsgebäudes in Kapstadt, zog ein Messer aus seiner Jacke und stach wütend auf Hendrik Verwoerd, den südafrikanischen Premierminister, ein. Verwoerd, Vorsitzender der Nasionale Party und brillantester Ideologe der Apartheid, war sofort tot. Sein Mörder war dem Anschein nach ein armer Irrer, der auf Anweisung eines eingebildeten Bandwurms handelte. Er entging der Verurteilung, wurde weggesperrt und vergessen.
Damals, rekapituliert der niederländische Autor Henk van Woerden, der die Geschichte des Attentäters in einer aufregenden und berührenden biografischen Reportage zusammensetzt, war die Sache beruhigend klar. „Nicht das Land war krank, sondern der unglückselige Grieche“: Alle waren sich einig, dass die Tat kein politisches Motiv hatte. Nelson Mandela nannte Tsafendas später einen „obskuren weißen Parlamentsboten“.
Doch Tsafendas war weder Grieche, noch war er weiß. Er wurde 1918 im damaligen Portugiesisch-Ostafrika als Sohn eines griechischen Emigranten und seines mosambikanischen Hausmädchens geboren – seine Mutter, die nach kurzer Zeit weggeschickt wurde, lernte er nie kennen. Sein Vater brachte ihn zur Großmutter nach Alexandrien, wo er im „gemischten kulturellen Klima des östlichen Mittelmeers“ die sechs glücklichsten Jahre seines Lebens verbrachte, die einzigen, in denen seine gemischte Abstammung kein Problem darstellte.
Für den langen Rest seines Lebens bleibt Tsafendas heimatlos. Schon mit zwölf Jahren spricht er fünf Sprachen, aber keine richtig. Er ist ein in sich gekehrter Junge mit krausem Haar und hellbrauner Haut. Bald nach seiner Rückkehr aus Alexandrien ins mosambikanische Elternhaus schieben ihn Vater und Stiefmutter in ein Internat ab. Als seine Familie nach Südafrika umsiedelt, erhält der 17-Jährige keine Einreiseerlaubnis und bleibt allein zurück. Im Jahr darauf geht er illegal über die Grenze, schlägt sich eine Weile durch, wird festgenommen und ausgewiesen – ein Vorgang, der ihn auf eine verzweifelte, zwanghafte Odyssee um die halbe Welt treibt.
Tsafendas will als Kosmopolit leben, doch anstatt überall willkommen zu sein, ist er es nirgendwo – ein mittelloser Emigrant und ein Bastard, der nirgendwo herkommt und genau dorthin zurückgeschickt wird. Ein paar Mal kann er durch bürokratische Lücken schlüpfen, doch meistens verfährt man mit ihm, wie man das auch heute noch tut: Verhaftung, Abschiebung, Aktennotiz. Zwanzig Jahre schlägt er sich als Unperson durch die Länder Nordamerikas, Europas und des Nahen Ostens; von fast allen lernt er nur Hafenstädte, Gefängnisse und psychiatrische Anstalten kennen. Die Diagnose lautete mal auf Schizophrenie, mal auf „mischbildartige Psychose“.
Währenddessen bleibt Südafrika der Ort seiner Sehnsucht. Ein ums andere Mal beantragt Tsafendas ein Visum, immer vergeblich. Heimweh plagt ihn – doch warum ausgerechnet Südafrika? Er nennt seine Familie als Grund, doch mehr als diese bewegt den innerlich tief verletzten Vagabunden der Drang, seine Seele zu beruhigen. Südafrika ist ein Land voller rassisch Illegitimer, die den Mix aus Engländern, Afrikaandern, Indern, europäischen Emigranten verschiedenster Herkunft und der Vielzahl von afrikanischen Völkern reflektieren und zugleich verschmelzen. Er hat es der Schludrigkeit eines Beamten zu verdanken, dass sich sein Wunsch schließlich erfüllt. Im November 1963 kann er in das Land einreisen, das er sich als Heimat auserkoren hat. Es hat sich inzwischen zur weißen Nation erklärt.
An der Macht ist Hendrik Verwoerd, ein niederländischer Emigrant, dessen kollektive Identität sich aus mythologisierten Erinnerungen an den blutigen „Groot Trek“ durch Zululand im 19. Jahrhundert und die im „heroischen Freiheitskampf“ des Burenkrieges erlittene Erniedrigung speist – aus Überlegenheitsgefühl gegenüber der schwarzen Bevölkerung und Hass auf die englischen Südafrikaner. Verwoerd ist ein fanatischer Anhänger der Rassentheorien, deren biologistischer Kulturpessimismus seit dem frühen 19. Jahrhundert Hochkonjunktur hat: Vermischung bedeutet Schande und Tod, rassische Reinheit ist heilig. Er vollendet eine Politik, die mit den ersten Gesetzen zur rassischen Segregation im Jahre 1910 begann und nach dem Wahlsieg seiner Partei 1948 zur Staatsdoktrin wurde.
Tsafendas, der komische Kauz, agitiert mit zwanghafter Energie gegen die Verbote, wann immer ihm jemand zuhört: „Die Nasionale Party, die werde es wohl nicht mehr lange geben, prophezeit er, und die so genannten Immoralitätsgesetze, die Liebe zwischen Schwarzen und Weißen verbieten, seien selbst unmoralisch.“ Es ist, als begehre sein riesiger Leib – der unstatthafte Körper des Bastards – gegen die Bösartigkeit der Apartheid auf, als wüte seine Seele gegen den ihr auferlegten Selbsthass. Der sanfte und taktlose Mensch, der nirgends ein Zuhause fand, war auch ein Exilant von sich selbst. Im August 1965, als die Behörden mit Anträgen überschüttet werden, rassische Identitäten vorteilhaft zu begradigen, gibt er seinen „weißen“ Pass ab und lässt sich als „Coloured“, als Mischling, registrieren. Ein Jahr darauf tötet er seinen größten Feind: die Notwehr eines unheilbar Beleidigten.
Das Buch, das Henk van Woerden über Tsafendas geschrieben hat, ist eine persönliche Reise in die Vergangenheit und in eine unbekannte Gegenwart. Persönlich deshalb, weil er 1956 als Neunjähriger mit seiner Familie nach Südafrika zog – ein holländischer Emigrant wie Verwoerd ein paar Jahrzehnte zuvor. Als junger Erwachsener flüchtete er vor dem Elend der unverdienten Bevorzugung nach Europa. 1989, kurz bevor Präsident de Klerk der Apartheid abschwor, kehrte er zum ersten Mal zurück. In den folgenden Jahren unternahm er mehrere Reisen in das „neue Südafrika“, auf denen er sich in das Land und seine Archive vertiefte, um aus der sich langsam ordnenden Geschichte des unglücklichen Pilgers und dem Chaos der Gegenwart ein Bild zu gewinnen.
Als Teenager sah van Woerden seine schwarzen Nachbarn verschwinden. Vier Millionen Südafrikaner wurden insgesamt aus den gemischten Vierteln der Städte in die Homelands vertrieben. Plötzlich war er „weiß“, und seine Mutter sprach vom „schrecklichen Los der Grenzfälle“. Das Südafrika der Neunzigerjahre hat sich eine Therapie der nationalen Neuerfindung auferlegt, doch als er dorthin zurückkehrt, findet er eine weiterhin – doch mehr denn je durch Besitz – geteilte Gesellschaft bewaffneter Bürger vor, die „Karikatur eines Landes, meines Landes – ein Sauhaufen, verseucht, versteinert, erstarrt“. Er findet eine traumatisch verfestigte Kultur der Gewalt und des Geheimnisses, ähnlich der des amerikanischen Südens nach dem Bürgerkrieg. Aber auch, in individuellen Lebensentwürfen, Hoffnung auf Gesundung.
Van Woerden stellt Fragen: Wie neu ist, was er sieht und hört? Woher kommt die allgegenwärtige Brutalität? Was ließ – zu einer anderen Zeit, am selben Ort – einen harmlosen Sonderling wie Tsafendas zum Mörder werden? Dessen Geschichte, die mit Erinnerungen des Autors und Berichten aus der Gegenwart zu einer behutsam tastenden und bewusst subjektiven Geschichtserzählung verschränkt ist, wird hier erstmals rekonstruiert. Tsafendas, dessen Tat nie für den Widerstand instrumentalisiert wurde, bleibt auch in der Post-Apartheid-Ära obskur – der Bastard war zu radikal eigensinnig, um zum Symbol zu taugen.
1998 erhält Henk van Woerden endlich die Möglichkeit, ihn in seiner Klinik zu besuchen. Er trifft einen „charmanten Quatschkopf“, einen „Überlebenden der Havarie der südafrikanischen Geschichte“, der auf immer von ihr verstört bleibt. Vor mehr als dreißig Jahren hatte er seinen Zuhörern die Vision einer Regenbogennation unterbreitet; jetzt, da der Gedanke längst zur nationalen Orthodoxie geworden ist, bleibt er ein Ausgesperrter, „einer der wenigen, die immer noch nicht heimgekehrt sind“.
Während sein Land aus der Erzählung der Vergangenheit, unter dem Banner von „Wahrheit und Versöhnung“, eine neue Identität zu gewinnen sucht, zieht er Episoden aus einem Meer von Erinnerungen und hält immer nur lose Enden in der Hand – er kann sie zu keiner Geschichte seiner selbst vereinigen. Einmal noch, als er 1999 im Alter von 81 Jahren stirbt, erinnert man sich am Kap einen Moment lang an ihn, bevor er endgültig verschwindet: in einem unmarkierten Armengrab.
Henk van Woerden: „Der Bastard“. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Berlin Verlag, Berlin 2002. 251 Seiten, 18 €
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