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Der letzte Bodensee-Walzer

Der Großdichter Martin Walser hat ein Drehbuch für einen „Tatort“ geschrieben

Der Oberstudiendirektor, ein resignierender Mittfünfziger, ist in eine Lebenskrise geraten

Winter am Bodensee. Der Mensch meidet die klirrende Kälte der unwirtlichen Natur und sucht menschliche Wärme beim heimeligen Tanzvergnügen. Der „Narrenball“ ist der erste Höhepunkt in der Philippsburger Ballsaison. Auf dem überfüllten Parkett der Stadthalle des Bodenseestädtchens wird von aufmerksamen Tänzern die Leiche eines 16-jährigen Mädchens gefunden. Zunächst ist weder ein Täter noch ein Motiv in Sicht, doch Kriminaloberinspektor Anselm Kristlein gelingt es, bald Licht in das Dunkel zu bringen.

In puzzleartig angeordneten Rückblenden werden Kristleins scharfsinnige Kombinationen Schritt für Schritt nacherzählt: Bald schon gerät Rudolf Kropp ins Zentrum der Ermittlungen. Der Oberstudiendirektor, ein resignierender Mittfünfziger, ist in eine Lebenskrise geraten. Während seine Ehe in Philippsburg nach anfänglichen erotischen Zimmerschlachten immer schaler und routinemäßiger verläuft, tritt mit der attraktiven Dorle, einer 16-jährigen Schülerin, der Inbegriff der lebensbejahenden Jugend in sein mausgraues Beamtenleben. Der Drang, diesen Wildfang zu besitzen, lässt bei Kropp nach und nach sämtliche Sicherungen durchbrennen.

Als er auf einer heimatkundlichen Lehrwanderung mit Dorles Klasse seiner minderjährigen Angebeteten ein querfeldein fliehendes Pferd fangen will, um ihr seine Vitalität unter Beweis zu stellen, geraten beide abseits der Gruppe ins Unterholz. Aufgrund eines nicht vorhandenen Lassos schlägt der Fangversuch fehl, doch Kropp, erregt von Dorles Nähe, enthüllt ihr auf einer moosigen Lichtung ein süßes Geheimnis: sein „Einhorn“. Beim Anblick von Kropps springendem Brunnen verzichtet Dorle allerdings auf die weitere Ansicht seiner Figur und besteht auf der Verteidigung ihrer Kindheit, indem sie sich ebenfalls aus dem Staub macht.

Halbzeit, jenseits der Liebe. Kropp wird vom Schuldienst suspendiert und fristet sein Leben als freier Schriftsteller. Als er nach aufreibender Seelenarbeit mit seinem von der Kritik totgeschwiegenen Romanerstling „Das Einhorn“ daran scheitert, den Lebenslauf der Liebe und zugleich die große Abrechnung seines Lebens zu schreiben, gerät er immer tiefer in den Strudel seiner tödlichen Leidenschaft. Ohne Dorle, ohne einander kann er nicht leben.

Beim Philippsburger Narrenball schleicht sich der mittlerweile völlig heruntergekommene Kropp in die Philippsburger Stadthalle und dudelt sich mit einem schweren badischen Spätburgunder ein Räuschchen an. Er fühlt sich stärker denn je, jetzt ist er bereit, Dorles Missachtung seiner Person zu bestrafen. Beim letzten Walzer kommt es dann zum Showdown. Dorle, die sich in den Armen ihres Freundes Wolf selig im Dreivierteltakt wiegt, wird von Kropp unter einem Vorwand ins Foyer gelockt. Als Dorle einem „klärenden Gespräch“ vor der Damentoilette jedoch beharrlich ausweicht, wird sie von dem volltrunkenen Kropp mit dem Flaschenöffner erstochen. Mit letzter Kraft kann sie sich auf die Tanzfläche schleppen, wo sie tot zusammenbricht …

Kropp, nun aller gesellschaftlichen Bindungen entledigt, verlässt torkelnd den Tatort und versucht, mit einem angemieteten Schimmel über den zugefrorenen Bodensee zu entkommen. Doch seine Flucht findet schon nach fünf Metern durch Sturz ein feuchtes Ende in der Brandung des „Schwäbischen Meeres“. Nicht einmal das Eis hält mehr, was er sich davon versprochen hatte. Der gescheiterte Reiter über den Bodensee kann so von Kriminaloberinspektor Kristlein mühelos festgenommen und ins „Schwanenhaus“, das berüchtigte Untersuchungsgefängnis Philippsburgs, überstellt werden. RÜDIGER KIND

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