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TÜRKISCHER EU-BEITRITT – DEUTSCHLAND MUSS ENDLICH FARBE BEKENNENÜber Berlin nach Brüssel

Das Wichtigste an dem gestrigen Besuch des türkischen Wahlsiegers Tayyip Erdogan ist, dass er stattgefunden hat. Für Erdogan und die neue türkische Regierung ist Deutschland der Schlüssel zur EU. Jeder in Ankara weiß, dass sie ohne die Deutschen keine Chance auf eine weitere Annäherung an Brüssel haben. Deshalb war es so wichtig, dass Schröder einen Termin für Erdogan freigeräumt hat. Nun kann er sich persönlich einen Eindruck vom neuen starken Mann der Türkei machen und anschließend hoffentlich selbst einschätzen, ob es sich bei Erdogans Mannen tatsächlich um so etwas wie die türkische Variante der CDU handelt oder die AK-Partei die EU nur als Deckung für ihre islamisch-fundamentalistischen Absichten benutzt, wie ihr manche Kritiker vorwerfen.

Erdogans Tour durch diverse EU-Hauptstädte findet auf dem bisherigen Höhepunkt einer Diskussion um die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa statt. Bislang hat die Bundesregierung sich in der Diskussion ziemlich bedeckt gehalten und lediglich verkündet, was nach der bisherigen Beschlusslage rein formal selbstverständlich ist: Wenn die Türkei die Kriterien erfüllt, können die Beitrittsverhandlungen beginnen. Auf dem kommenden EU-Gipfel in Kopenhagen dürfte diese Haltung – auch wenn es aus innenpolitischen Gründen mit Blick auf die Landtagswahlen in Hessen opportun erscheinen mag – womöglich nicht mehr ausreichen. Angesichts der Debatte innerhalb der EU und der berechtigten Erwartungen in der Türkei, endlich verlässlich Bescheid zu wissen, ist es an der Zeit, Farbe zu bekennen.

Möglich, dass man die Türken in Kopenhagen noch einmal hinhalten kann. Doch spätestens im kommenden Sommer, wenn in Athen die Beitrittsurkunden mit zehn weiteren Mitgliedern unterschrieben werden sollen, müssen die EU-Länder ihre Karten auf den Tisch legen. Wollen sie, wenn die bekannten Voraussetzungen erfüllt sind, einen Beitritt der Türkei? Wenn die Staatschefs der EU ihren Beschluss von Helsinki 1999 – als die Türkei offiziell zum Kandidaten erklärt wurde – nicht widerrufen, müssen sie ernsthaft anfangen, die EU auf einen Beitritt der Türkei vorzubereiten.

JÜRGEN GOTTSCHLICH

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