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Die zweite Flucht der Familie Arslan

Zehn Jahre nach dem Brandanschlag von Mölln: Jugend- und Gewaltforscher Heitmeyer sagt: Zahl der rassistischen Übergriffe hat nicht nachgelassen. Türkische Gemeinde Deutschlands fordert Polizei und Staat zu energischerem Handeln auf

„Ich musste täglich über die Stelle laufen, an der meine Mutter gestorben ist“, sagt Faruk Arslan

von ELKE SPANNER

Die Arslans mussten irgendwann vor ihrer Geschichte fliehen. Seit zwei Jahren lebt die fünfköpfige Familie in Hamburg und nicht länger in dem Haus in der Möllner Mühlenstraße, in dem vor genau zehn Jahren Mitglieder ihrer Familie bei einem rassistischen Brandanschlag ums Leben gekommen waren. „Ich musste täglich über die Stelle laufen, an der meine Mutter gestorben ist“, erklärt Faruk Arslan gegenüber der taz (siehe Portrait Seite 7). Für ihn war es nicht nur eine Flucht vor den Alpträumen und Ängsten, unter denen die Familie auch Jahre nach der Brandnacht noch litt, sondern auch eine heraus aus einer Stadt, von der er sich im Stich gelassen fühlte. Faruk Arslan sagt: „Die Stadt hat sich nur an uns erinnert, wenn mal wieder ein Jahrestag vor der Tür stand.“

Für den jüngeren der beiden damaligen Täter ist die Geschichte hingegen bereits abgeschlossen. Während sein Kumpel Michael Peters eine lebenslange Haft zu verbüßen hat, wurde der bei der Tat 19-jährige Lars Christiansen im Juni 2000 aus dem Gefängnis entlassen. Am 23. November 2002 hatten die beiden Molotowcocktails in das Haus der Familie Arslan geworfen und sich vor der Polizei am Telefon damit gebrüstet, „Heil Hitler“ rief Peters damals und legte auf. Bahide Arslan, ihre Enkelin Yeliz und deren Cousine Ayse starben in den Flammen. Es war der erste rassistisch motivierte Brandanschlag, bei dem Menschen getötet wurden.

1992 schien es, als habe der Übergriff plötzlich die Augen für eine Entwicklung geöffnet, vor der man lange zuvor weggesehen hatte: dass sich in Mölln und Umgebung längst eine rechtsradikale und neonazistische Szene gebildet hatte. Erst nachdem der Name der schleswig-holsteinischen Kleinstadt weltweit in die Schlagzeilen geraten war, nahmen die dortigen Behörden zur Kenntnis, dass sich rund 60 Rechte zusammengeschlossen hatten, von Skinheads bis hin zu Neonazis. Auch die beiden Täter waren schon lange als Mitglieder dieser Szene bekannt. Peters war vor dem Möllner Brandanschlag sogar schon wegen Angriffen auf Flüchtlingsheime in Pritzier, Gudow und Kollow aufgefallen. Die Staatsanwaltschaft hatte schon einen Haftbefehl für ihn in der Schublade. Festgenommen aber wurde er nicht. Erst, nachdem er in Mölln drei Menschen getötet hatte.

Im Urteil gegen die beiden Täter deutete der Vorsitzende Richter am Lübecker Landgericht im Dezember 1993 an, dass sich Christiansen und Peters „in ihrer Stimmung gegen Ausländer an der Spitze einer breiten Mehrheit der Bevölkerung wähnten“. Zuvor waren deutsche Rechte von der Bevölkerung in Rostock-Lichtenhagen beklatscht worden, als sie über Tage Vietnamesen jagten und mit dem Tode bedrohten. Die Anschläge fallen auch in die Zeit der Debatte über das Asylrecht, in der auch führende Politiker des Landes mit Aussagen wie „das Boot ist voll“ hausieren gingen. Die Hetze gegen eine „Asylantenschwemme“ bezeichnet der Bielefelder Gewaltforscher Wilhelm Heitmeyer als Auslöser der Gewaltkette, in der neben Mölln auch Solingen, Rostock und Hoyerswerda standen.

Und dennoch konnte sich auch nach dem tödlichen Anschlag von Mölln die rechte Szene weiter etablieren. Heitmeyer weist darauf hin, dass Fremdenfeindlichkeit in Deutschland auch heute weiter schwelt: „Das Potenzial ist nicht geringer geworden.“ Dass die Zahl rechter Übergriffe in den vergangenen Monaten zurückgegangen ist, liege allein daran, dass „die Politik mit allen Tricks versucht, die Zahl der Straftaten zu drücken“.

Anlässlich des heutigen zehnten Jahrestages fordert auch die „Türkische Gemeinde in Deutschland (TGB)“ von der Politik, dafür zu sorgen, dass sich rechte Übergriffe nicht mehrwiederholen können. Straftaten mit rassistischem Hintergrund müssten unnachgiebig geahndet werden. Die TGB mahnt ein Antidiskriminierungsgesetz an, wie es auch von der Europäischen Gemeinschaft verlangt wird. Noch weit wichtiger aber sei, die geistigen Brandstifter und Hintermänner daran zu hindern, „ihre Hetzkampagnen gegen Juden, Ausländer, Behinderte oder andere Minderheiten ungestraft organisieren und verbreiten zu können und damit immer wieder junge Menschen zu ähnlichen Handlungen zu verführen“.

Antje Buchholz vom Möllner Verein „miteinander leben“ bilanziert, dass es eine rechte Szene in Mölln inzwischen nicht mehr gäbe. Neonazis hätten es jetzt schwerer, sich zu organisieren, „unsere Anwesenheit zeigt ihnen, dass sie nicht unbeobachtet sind“. Aber natürlich seien auch auf den Straßen von Mölln einzelne Rechte unterwegs. „Es ist ein normaler Anteil, wie es ihn in jeder deutschen Kleinstadt gibt.“

Gedenkveranstaltungen in Mölln: Heute um 18 Uhr ökumenischer Gottesdienst in der St. Nikolai Kirche. 19 Uhr Andacht der muslimischen und ökumenischen Gemeinden auf dem Möllner Marktplatz, anschließend Schweigemarsch zur Mühlenstraße und Kundgebung mit Justizministerin Anne Lütkes, dem Türkischen Botschafter Osman Korutürk und dem Anschlags-Überlebenden Faruk Arslan

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