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Rappelige Teegesellschaft

Mit Martin Gardners Kommentaren und Katie Roiphes Roman über die Liebe eines Mathematikers zu einem kleinen Mädchen wissen wir jetzt (fast) alles über Alice, Lewis Carroll – und den Märzhasen

von MICHAEL RUTSCHKY

So wie Donaldisten gibt es Alicianer – die sich freilich nicht so nennen. Auch die Schmidtianer nennen sich nicht so, die in der Bundesrepublik der Sechzigerjahre mit den Alicianern beinahe zusammenfielen. Weil das Objekt ihres Kultes, Arno Schmidt, im Zuge seiner literarischen Abarbeitung an James Joyce in der ihm eigenen Manier Hohn und Ehrerbietung mischend behauptet hatte, dessen Sprachmanipulationen seien doch eigentlich gar nicht von ihm, sondern von Lewis Carroll erfunden worden. Von da an fühlten sich die Schmidtianer verpflichtet – auch die nur sympathisierenden Schmidtianer, wie ich einer war –, „Alice im Wunderland“ und die anderen Schriften Carrolls für kanonische Werke der modernen Literatur zu halten.

Ja, das waren seltsame Zeiten und komplizierte Verhältnisse. Man kaufte Christian Enzensbergers neue Übersetzung der Alice-Bücher („Alice hinter den Spiegeln“ noch bedrohlicher als das „Wunderland“) und die von Klaus Reichert herausgegebenen „Briefe an kleine Mädchen“, denen einige Exemplare von Carrolls außerordentlichen Fotoporträts derselben beigegeben waren, nicht zuletzt solche der notorischen Alice Liddell – „Ach, so schaut die aus!“. Mein Archiv enthält eine Spiegel-Story aus dem Jahr 1964 sowie, als letztes Sammelstück, Jörg Drews’ Rezension von Klaus Reicherts Buch, das Carrolls Literatur unter dem Aspekt des Nonsens untersuchte.

Wer sich damals in den Sechzigern für Alice und Carroll engagierte, war gleichzeitig an einer ganz anderen Frage interessiert, eine wirklich heiße, drängende Frage – auch wenn das heutzutage nachzufühlen ist: Was ist eigentlich (wahrhaft) moderne Literatur? „Produktion und Theorie der Literatur fallen auseinander“, hörten wir 1963 andächtig Helmut Heißenbüttel in seiner Frankfurter Poetikvorlesung ausführen, „die theoretischen Impulse, die der Literatur gerecht werden, stammen von Schriftstellern und Philosophen. Die Wissenschaft hängt schwerfällig zurück, eine eher restaurativ gesonnene Kritik gewinnt aus der Wissenschaft ihr Rüstzeug. In diesem Auseinanderstreben kann man die Folge eines immer wieder unterbrochenen, immer wieder fehlgeleiteten Aufklärungs- und Bildungsprozesses sehen, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht zu seinem Ziel gelangen konnte.“ Das würden wir ändern und die Wiedervereinigung von Literatur und Theorie herbeiführen; dem diente auch die Lektüre Lewis Carrolls. Die freilich, wie in vielen Fällen dieser wahrhaft modernen Literatur (an erster Stelle James Joyce’ „Finnegans Wake“) nicht so richtig anfangen wollte. Konzentrierte sich das wahrhaft Moderne in der Sprachmanipulation – wie Heißenbüttel und andere immer wieder unterstrichen –, so mussten wir bei Carroll (und Joyce) als Nichtenglischsprecher passen. Den „Jabberwocky“ aus „Alice hinter den Spiegeln“ übersetzte Enzensberger mit „Zipferlak“; in der neuen Übersetzung von Günther Flemming ist er der „Schebberroch“. Bei Enzensberger heißt die Figur der „Mock Turtle“ einfach „Falsche Suppenschildkröte“; bei Flemming jetzt der „Schildkrötensupperich“. Wie soll da die in der Sprache mystisch geballte Macht des Modernen sich unwiderstehlich entfalten?

Unterhalb dieser Diskussion über Theorie und Praxis der modernen Literatur findet man natürlich eine ganz andere Lektüre, die des Kinderbuchs durch Kinder. Mutter hatte ein eingedeutschtes und illustriertes Exemplar im Amerika-Haus von Kassel für das Söhnchen ausgeliehen; weil es ohne weiteres den so begehrten Glanz im Mutterauge hervorrief, wenn Söhnchen Mutters Empfehlungen folgte, habe ich das Buch brav gelesen. Und war entsetzt. Statt in ein gemütliches Zauberreich, wo dir gebratene Tauben in den Mund fliegen, fällt Alice durch den Baumstamm hindurch in einen Garten der Foltern, und der Leser ist heilfroh, wenn sie am Ende in den Sommernachmittag am Fluss zurückkehrt, aus dem Albtraum erwacht.

Dieser Schrecken ist aber das eigentliche Thema der wahren Alicianer. Er kommt aus der seltsamen Gestalt des Charles Lutwidge Dodgson, die sich hinter dem Pseudonym Lewis Carroll verbarg. Wie Nietzsche war Dodgson ein schüchterner und verdrehter Mensch, der sein Leben als mittelmäßiger Mathematiker in Oxford verbrachte. Immer wieder ging er intensive Beziehungen zu kleinen Mädchen ein, die er mit donjuaneskem Geschick anzubahnen wusste. Legendär sind die Stecknadeln, die er bei sich führte, damit er ihnen den Rock hochstecken konnte, wenn sie im Meer zu waten wünschten; sowie die schwarze Tasche mit Geduldspielen und kleinen Geschenken, die er immer zur Hand hatte. Aus den Beziehungen zu den kleinen Mädchen entstanden zwei Junggesellenmaschinen von erheblicher Komplexität und Energie: sein literarisches und sein fotografisches Werk.

Katie Roiphe, prominente Postfeministin – wie ich mir erklären ließ – erzählt in ihrem Roman „Rätselhafte Alice“ die Liebesgeschichte zwischen dem schüchternen Don und dem schönen kleinen Mädchen mit Deutlichkeit und Diskretion. Den Dokumenten nach besteht kein Zweifel, dass es auf Seiten Dodgsons nie zu Übergriffen kam. Die Libido, die sich auf das Mädchen richtete – und Katie Roiphe widmet sich dieser Libido geradezu mit Zärtlichkeit –, war komplett zielgehemmt. Einzig in den Spielen und Rätseln, Briefen, Gedichten und erzählerischen Erfindungen, welche Alice beschäftigen und amüsieren sollten, durfte Dodgson diese Libido ausleben. Es soll ein goldener Sommernachmittag am Wasser gewesen sein, wo er zum ersten Mal Alice die Alice-Geschichte erzählt hat. Freilich ergaben Recherchen, dass den 4. Juli 1862 in Oxford und Umgebung kühle Luft und Regen bestimmten …

In solchen Einzelheiten schwelgen die Alicianer. Martin Gardners albumgroßer Band „Alles über Alice“ spickt in Seitenglossen die beiden Alice-Texte mit den entprechenden Informationen und Weitererzählungen. Es handelt sich um ein veritables Coffeetable-Book, das man zum Lesen am besten auf einem Tisch ablegt; solche Bücher liebten die Viktorianer und repräsentierten damit in ihren Salons, und wir halten mit der aufwändig gestalteten Publikation des Europa-Verlages eine Art Wiedergänger in den Händen.

Das Glossarium versorgt mich mit allen wünschenswerten und unerwünschten Aufklärungen. Dass der verrückte Hutmacher und der Märzhase, mit denen Alice Tee zu trinken versucht, auf Redewendungen der Zeit zurückgehen, beispielsweise. Wobei mad as a hatter eine materialistische Erklärung erlaubt, weil Hutmacher mit Quecksilber arbeiteten, und das verursachte Nervenschäden – als Kind hat mich diese Teegesellschaft mit ihren Fehlhandlungen und assoziativen Irrläufern richtig rappelig gemacht. Die albtraumhafte Drohung, die die ganze Erzählung hinterfängt und schließlich in der absurden Gerichtsverhandlung mit der bösen Königin („den Kopf ihr ab!“) kulminiert, diese Drohung macht sich auch in den burlesken Szenen immer wieder fühlbar. – Aufschlussreicher als die Einzelinformationen fand ich beinahe, wie der Band jene rastlosen Tätigkeiten der Alicianer erzählt, wie sie den Gegenstand ihres Kults in ein Netz von Wissen einspinnen. Immer wieder zitiert Martin Gardner Briefe von Lesern, die ihm noch eine und noch eine Information oder Spekulation mitteilen. An einem ebensolchen Netz weben ja auch die Donaldisten, das Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat, die Joycianer.

Eines der zentralen Mysterien dieses Kults: Warum brach Mrs. Liddell, Alices Mutter, den Kontakt zu Dodgson plötzlich ab? Jedes Jahr gibt es einen neuen Lösungsvorschlag für das Rätsel. Katie Roiphe erzählt die Geschichte wie folgt: Dodgson hat Alice nackt fotografiert, und das war, wenn auch nur ganz wenig, zu viel. Alices eifersüchtige Schwester spielt das Foto der Mutter, die gleichfalls ein wenig eifersüchtig ist, in die Hände, und damit ist Schluss.

Es mag sein, dass diese Lösung des Trennungsrätsels unrealistisch ist, weil die Viktorianer ihre Kinder für – objektiv wie subjektiv – vollkommen rein und asexuell hielten, ein Glaube, den kein Aktfoto erschüttern konnte. Ebenso drastisch wie delikat kommt Katie Roiphe mehrfach auf die Chemikalien zu sprechen, die das so genannte nasse Kolodiumverfahren in der Fotografie erfordert; irgendwie assoziieren sie sich den Körperflüssigkeiten, die bei der Liebe vorkommen. Wäre aber Dodgson auch nur ein einziges Mal auf diese Metaphorik gestoßen, er hätte sofort abgebrochen.

Lewis Carroll: „Alles über Alice“. Aus d. Englischen v. Günther Flemming. Einführung und Anmerkungen v. Martin Gardner, übersetzt u. ergänzt v. Friedhelm Rathjen. Originalillustrationen v. John Tenniel. 344 Seiten, 29,90 €ĽKatie Roiphe, „Rätselhafte Alice“. Aus d. Amerikanischen v. Friedhelm Rathjen. 304 Seiten, 19,90 €. (Beide Europa-Verlag, Hamburg u. Wien 2002)

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