: „Wir sondern kein Kind aus“
Streik an der Harburger Schule Grumbrechtstraße: Schüler und Eltern protestieren gegen Abschaffung der Integrativen Regelklassen. Ohne Integration müssten 80 Kinder auf die Sonderschule: Eindrücke einer „hocheffektiven“ Arbeit
von KAIJA KUTTER
An der Harburger Schule Grumbrechtstraße blieben gestern früh die Klassen leer. Rund 500 Schüler und Eltern demonstrierten für den Erhalt der „Integ- rativen Regelklassen“, die nach Behördenplänen durch „regionale Förderzentren“ ersetzt werden sollen. Auch in Finkenwerder wurden Schulen bestreikt.
In der Grumbrechtstraße ist vieles anders. Auf dem Schulhof ist Roller- und Skateboardfahren erlaubt. Spielgeräte wie Kippelstege und Gummiwippe sind danach ausgesucht, die Körperkoordination zu schulen. „Wir haben wenig Unfälle, weil wir den Kindern was zutrauen“, sagt Schulleiter Rainer Kühlke.
Die Klassen heißen nicht a, b. c, sondern „Gespenster“, „Fledermäuse“ oder „Feuerdrachen“. Die Schüler sind nicht nach Jahrgängen sortiert, sondern in Lerngruppe I (Vorschule, 1. und 2. Klasse) und II (3. und 4. Klasse). Sitzenbleiben gibt es nicht, wer länger braucht, bleibt schlicht länger in seiner Lerngruppe. „Von dem System profitieren die Schwachen und die Starken“, sagt Lehrerin Kirstin Friese. Wer schneller lernt, huscht als Zweitklässler schon mal über den Flur zu den Großen. Hochbegabte können die Grundschule in drei Jahren durchlaufen.
9 Uhr 10: Wir öffnen die Tür bei den Gespenstern: 25 Kinder schwingen die Arme im Takt zur Musik aus dem Recorder. Kirstin Friese und Kollegin machen die Bewegungen vor. Hampelmann, um Arme und Beine zu koordinieren, in Achten mit den Armen kreisen, um beide Hirnhälften zu aktivieren. Nach der Bewegung kommt die „Freiarbeit“, jedes Kind sucht sich eine zuvor im Kreis abgesprochene Aufgabe. Nur zwei Jungs schickt die Lehrerin nach draußen, erst mal einen Wettlauf machen. „Die haben großen Bewegungsdrang“. Die Klasse hat 25 Schüler, davon zwei behinderte und acht Kinder mit Lernstörungen oder Verhaltensproblemen wie Hyperaktivität.
Die Athmosphäre ist ruhig und entspannt. Auch gegenüber bei den Fledermäusen, so heißt die Klasse 3 bis 4. Konzentriert rechnet eine Gruppe mit Perlentablots. 10 mal 10 sind 100, mal 10 im Würfel sind 1000. Besonders für Kinder mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) sei dieses aus der Montessori-Pädagogik stammende Lehrmaterial gut, erklärt Kühlke: „Viele Kinder haben keinen Überblick über Zahlen. Hier können sie sie über die Sinne erfassen“.
Viele Schüler aus dem als Armutsgebiet bekannten Umfeld Heimfeld kämen „vollkomen ungefördert“ zur Schule, können sich zum Teil noch nicht mal an- und ausziehen. Immer mehr Eltern, so Kühlke, wüssten nicht, was Kinder in ihren ersten fünf Lebensjahren brauchen. Hinzu kommt, bedingt durch enge Wohnverhältnisse, eine unterentwickelte Motorik. 30 Prozent der Heimfelder Kinder weisen laut Schulärztebericht hier Defizite auf. Im Hamburger Durchschnitt sind es nur vier Prozent.
Die Lehrer der Grumbrechtstraße haben ihre Arbeit seit Beginn der 90er Jahre von grundauf verändert. „Die Kinder haben uns dazu gezwungen. Sie kamen mit Problemen, auf die wir keine Antwort hatten“, sagt Kühlke. Andernfalls hätte man 80 Kinder auf die Sonderschulen schicken müssen, die Kindern „Perspektivlosigkeit“ vermitteln. Kühlke: „Wir sondern keine Kinder aus.“
Grund genug für Eltern und Lehrer, gegen die Pläne des Senats auf die Barrikaden zu gehen. Denn aus Gründen der „Gerechtigkeit“ soll die Förderung dieser Schule und 35 weiterer integrativer Grundschulen auslaufen. Die Mittel sollen in „Förderzentren“ gebündelt und allen 115 Grundschulen zugute kommen. Motto: das behinderte Kind fördern und nicht die Schule.
„Diagnostik ist wichtig. Wir erarbeiten für jedes Kind Gutachten und Förderplan“, erklärt Kühlke. Doch die Förderstunden werden größtenteils im Pool gebündelt und nutzen allen Lerngruppen. Ein Modell, das selbst der Rechnungshof lobte. Kühlke: „Verglichen mit einer Sonderschule sind die Mittel gering. Für einen Stadtteil wie diesen arbeiten wir hocheffektiv.“
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