: berliner szenen Advent, Advent!
Konzentrierter Krach
„Endlich ist es so weit!“, jubeln auf schlechtem Papier gedruckte Anzeigenblätter, die zu Dutzenden die Briefkästen im Kiez verstopfen. Was ist passiert? „Nun ist der Tag gekommen, auf den so viele Autofahrer sehnsüchtig gewartet haben!“ Kaum zu glauben: Der Weg nach Westen ist frei.
Nach zehn Jahren Bauzeit kann man dank millionenschwerer EU-Förderung endlich mit dem Auto die Brücke am Ende der Schivelbeiner Straße in Richtung Wedding benutzen. Realkauf im Gesundbrunnencenter hat mit bunten Prospekten seit Jahren die Konsumlust solventer Käuferschichten im östlichen Nachbarbezirk geweckt: Kassler Nackensteak Kilo fünf Euro, Notfallponcho „Harald“ vier Euro, Reinigungsset „Heureka“ für Bad und WC nur drei neunundneunzig. Bisher musste man natürlich auf schwerere Waren verzichten, weil nur Fußgänger über eine Behelfsbrücke durften.
Jetzt kann man die paar hundert Meter über die S-Bahnschneise und vorbei an tristen Wohnsilos auf einer frisch geteerten Piste sogar mit Lkws bis 175 Tonnen zurücklegen. Roll-on, roll-off. Der ADAC hat schon nachgelegt: Warum nicht gleich die Stadtautobahn hier entlangführen, über die Schienen des S-Bahnrings? Das hätte den Vorteil, dass „die Lärmemissionen auf einen Ort konzentriert“ werden. Großartige Idee. Visionen sind wichtig in dieser finsteren Zeit. Bis jetzt zieht die neue Brücke allerdings nicht viel mehr Verkehr an als vor ihrer Fertigstellung. Die meisten Kiezbewohner halten schon auf Ostseite am BSR-Hof, um dort Altbrot, Altöl und sonstigen Unrat zu verschrotten. Wer doch weiterfährt, der wird direkt an der Bezirksgrenze mit russischen Graffiti beschimpft. Ein Wort kann man auch in kyrillischen Buchstaben einfach lesen: „Idiot“! ANSGAR WARNER
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