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Bunte Einsprengsel

Absurd, surreal und streng: Das Stuttgarter Theater Rampe gastiert mit „Hirngespinste“ im Saalbau Neukölln

„Wo ist das Leben geblieben?“, rätselt Martin. Die Ehefrau Vera ist eine Fremde. Alltägliches wie der Gasherd erscheinen ein Mysterium. Stattdessen ergreift die Vergangenheit in Form von Erinnerungsfetzen Besitz von seinem Gehirn: Karin im zitronengelben Kleid, erotische Fantasien über die Klavierlehrerin, als kleiner Junge zusammengekauert unter dem Schreibtisch des Vaters.

„Hirngespinste“, so der sinnfällige Titel des Romans des niederländischen Autors J. Bernlef, quälen die Hauptperson Martin Klein, denn sein Bewusstsein und damit seine Persönlickeit zerfallen durch das unaufhaltsame Fortschreiten einer Demenzerkrankung. Der Musiker und Regisseur Chaim Levano hat die Romanvorlage seines Landsmanns für die Bühne dramatisiert. Im Stuttgarter Theater „Rampe“, Hort des zeitgenössischen deutschsprachigen Autorentheaters, fand die Erstaufführung statt. Der Koproduzent, das Theater Zum Westlichen Stadthirschen Berlin, hat sie jetzt in den Saalbau Neukölln gebracht. Levano, einer der führenden Köpfe der holländischen Avantgarde-Theaterszene, hat den Protagonisten des Romans in seiner Inszenierung in vier Martins aufgesplittet.

Einer davon ist stumm und äußert sich nur in der Gebärdensprache – ein kluges Bild, um die Persönlichkeitszersetzung zu veranschaulichen. Per Handy mit Freunden konferierend, kommentiert die Ehefrau Vera (Petra Weimer) das Drama zweier Menschen, die sich über die Krankheit fremd werden. Ohne die Form des Sprechtheaters zu sprengen, öffnet Chaim Levano seine Inszenierung für andere Kunstformen und findet in jedem Teilaspekt ein stimmiges Bild für den Zerfall der Ganzheit: Das Bühnenbild von Stephan Bruckmeier ist ein Kabinett aus Stellwänden und Spiegeln. Das Spiel der hochkonzentriert agierenden Schauspieler (Peter Hartmann-Müller, Robert Atzlinger, Johannes Herrschmann und Frank Albrecht) ist streng choreographiert.

Vor allem die eigens für das Stück komponierte Musik der fünfköpfigen Band trägt Raum in dem Text. Mal mit punkig schrägen Sounds, mal mit sanftem Chanson und Pop mischen sich die Musiker live auf der Bühne ins Geschehen und wirken wie bunte Einsprengsel in dem sich immer mehr verwirrenden Bewusstseinsstrom der in anonymes Anzuggrau gewandeten Martins.

Levano findet so eine zweite, ergänzende Deutungsebene für den poetisch-philosophischen und etwas absurd-surreal angehauchten Text. Denn der ist alles andere als ein Alzheimer-Dossier. Vor allem im zweiten Teil der Aufführung geraten die drei sprechenden Martins in einen philosophischen Diskurs frei nach Ludwig Wittgensteins Credo: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Nur ein Manko hat die Theater-Musik-Installation: Sie ist mit knapp zwei Stunden etwas lang und erfordert viel Konzentration. CLAUDIA GASS

„Hirngespinste“, 5. bis 15. 12., Saalbau Neukölln, Karl-Marx-Str. 141, 12043 Berlin, Neukölln

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