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Ins Außen gestülpt

An den Rändern des Menschlichen: Benoît Lachambre hat für die Tänzer der Schaubühne das Stück „Reverse me not … how about now“? choreografiert

Die kriechenden Tänzerscheinen tatsächlicheiner Katastropheknapp entronnen zu sein

Die Stimme ist ein sehr intimes Organ. Mit ihr kehrt sich das Innerste nach außen in dem Stück mit dem rätselhaften Titel „Reverse me not … how about now?“, das der Frankokanadier Benoît Lachambre als Gastchoreograf mit neun Tänzern der Schaubühne erarbeitet hat. Sie ächzen ins Mikrofon, sie verwinden würgend den Körper in innerer Verkrampfung, sie stoßen quiekende und zirpende Laute aus wie sehr, sehr kleine Tiere. Das ist nicht immer gut auszuhalten.

Denn man fühlt sich oft an jene Bereiche herangebracht, wo das Leben endet. Der Atem, den hörbar erfahren zu lassen ein großer Teil der Anstrengungen in dieser Choreografie gewidmet ist, erscheint so fragil, so verletzbar. Das Bewusstsein davon erzeugt Angst. Es sind psychotische Zustände und Erschütterungen, die Lachambre die Tänzer durchlaufen lässt. Wie eine Befreiung wirkt das nicht.

Dabei gehören die Referenzen an das Animalische und die Arbeit mit der Stimme zu Lachambres Projekt der „Wiederaneignung des Körpers“, der aus seinen sozialen Verbindlichkeiten und Überformungen befreit werden soll. Seit fast zwanzig Jahren untersucht der Tänzer und Choreograf, wie der Körper den Menschen ausmacht: über Mythen, über Atemtechnik, über Traumbilder. Das hat oft etwas Dunkles und Bedrückendes.

Aber manchmal ist es auch spannend. Man sieht auf die Bühne wie in ein Labor, in dem die Evolution rückwärts läuft. Irgendwann reißt auch dieser symbolische Faden, und übrig bleibt eine Klanginstallation, in der die Linien der Kabel, das Dröhnen und Brummen der Stahlrohrstühle, die mit unterschiedlichem Dringlichkeit über die Bühne geschoben werden, ebenso wichtige Bestandteile der Komposition sind wie die Tänzer und die Musik von Laurent Maslé. Gegen Ende greifen Ton- und Bildstrecken immer besser ineinander, und aus dem, was zuerst bloß eine Materialsammlung zu Extremzuständen schien, wird eine suggestive Komposition.

Sie endet mit Geräuschen wie das Abrutschen einer Geröllhalde: Dabei sieht man, dass dies die Mikrofone hervorbringen, die – mit starrer Folie umwickelt – langsam über den Boden gezogen werden. Die Tänzer aber, die ihnen nachkriechen, scheinen tatsächlich einer Katastrophe knapp entronnen zu sein.

Mit „Reverse me not …“ beteiligt sich die Schaubühne am viertägigen Programm „Tanz made in Berlin“, eine konzertierten Aktion von sieben Bühnen. Die Schaubühne ist das einzige Haus mit einem festen Tanzensemble. Dass dies keineswegs ein Ende des Experimentierens bedeutet, ist mit diesem Stück bewiesen. KATRIN BETTINA MÜLLER

„Reverse me not …“, Schaubühne am Lehniner Platz, 7. und 8. Dezember

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