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Der Traum von der unentfremdeten Arbeit

Von wegen Job-Flaute, Stellenmangel, Arbeitsplatzengpass. Unbezahlte Praktikanten werden immer gesucht. Für viele beginnt ein Teufelskreis

Michael Makropoulos spricht von einer zunehmenden „Fetischisierung der Praxis“

Das unbezahlte Praktikum ist Standard geworden. 65.692 Praktikanten waren am 31. Dezember 2001 in Deutschland registriert – in Berlin waren es 3.521. So wenigstens nach Auskunft der Bundesanstalt für Arbeit. Diese Zahlen beziehen sich jedoch lediglich auf Praktikanten mit Arbeitsvertrag und Sozialversicherungsbeiträgen. Also auf einen geringen Prozentsatz. Eine Dimension der Dunkelziffer zeigt ein Blick in den Stellenmarkt. In der Praktikumsbörse, die 14-tägig im Stadtmagazin zitty erscheint, sind in der Regel 70 Prozent aller Angebote ohne Vergütung.

Und ein Ende des Praktikumswahns ist nicht in Sicht. Längst sind mehrere Praxiserfahrungen ein Muss für jede Vita. Mittlerweile gelten bereits geleistete Hospitanzen als Bewerbungsvoraussetzung für künftige Praktika. Ein Teufelskreis: Hochschulabsolventen hangeln sich kostenlos von Firma zu Firma und bekommen auch bei Vorstellungsgesprächen auf eine bezahlte Stelle erst einmal ein Praktikum angeboten. Personalchefs plädieren dafür, dass man doch erst einmal die Strukturen des Betriebes kennen lernen sollte. Schauen, ob dass überhaupt etwas für einen ist. Und leider – „Sie wissen ja“ – könne man aufgrund der schlechten Wirtschaftslage vorläufig kein Praktikantengehalt zahlen. Wer sich darauf nicht einlassen will, hat schlechte Karten.

Die Arbeitsämter wissen um die anhaltende Zwangsfreiwilligkeit und finanzieren arbeitslosen Akademikern übergangsweise Praktika. Solange es „arbeitsmarktpolitisch notwendig und sinnvoll erscheint“, sagt Heike Kuss vom Hochschulteam des Arbeitsamtes in Berlin-Mitte. 460 Euro für 3 Monate zuzüglich Krankenversicherungsbeiträge investiert der Staat in „Absolventen, die sehr lange studiert und wenig Berufserfahrung gesammelt haben“.

Eigentlich sollte das ja die Ausnahme sein, findet Kuss. Doch die Arbeitsberaterin möchte nicht weltfremd klingen, sie kenne die Arbeitsmarktsituation. Deshalb bieten die Hochschulteams nun Seminare an, die sich speziell an Geisteswissenschaftler mit abgeschlossenem Studium richten. Von sieben Säulen der Zusatzqualifikation, Selbstvermarktungstrategien und Schärfung der eigenen Stärken ist da die Rede. Denn Kuss und ihre Kollegen möchten mit dem alten Vorurteil aufräumen, dass der Geisteswissenschaftler an sich eigentlich nur eines kann: Taxi fahren. Die Absolventen sollen vielmehr mit neuem Selbstbewusstsein in ein Vorstellungsgespräch gehen und einfach mal fragen: „Was zahlt ihr denn für die Leistungen, die ich erbringe?“ Die Resonanz auf das Angebot sei „super“, so Kuss, die Realität ernst. „Wir erleben es oft, dass Geisteswissenschaftler nicht einmal über die notwendigen Computerkenntnisse verfügen.“ Die Beamtin fordert eine offenere Prüfungsordnung und mehr Praxiserfahrung an den Unis.

Praxiserfahrung. Dieses Wort kann Michael Makropoulos nicht mehr hören. Der 47-Jährige lehrt Soziologie an der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich mit den kulturellen Wirklichkeiten moderner Gesellschaft. Er stellt eine zunehmende „Fetischisierung der Praxis“ fest. Ein Ausdruck davon sei das Praktikum. Worum es gehe, sei die „Verpflichtung aller Wissensformen auf einen Anwendungsbezug“. Aber das sei nicht so selbstverständlich, wie es gegenwärtig erscheinen mag. „Wieso soll es weniger praktisch sein, wenn ich am Schreibtisch sitze und schreibe, als wenn jemand in seiner Praxis einen Kranken behandelt?“ Die „Praxisorientierung“ sei jedoch nicht nur ein gesellschaftlicher Zwang. Makropoulos attestiert gerade Intellektuellen einen zwanghaften Drang zum praktischen Gestaltenwollen. „Und das um jeden Preis.“

Der Praktikumstrend ist für den Soziologen „Sehnsucht in alltagspraktischer Form“. Der Wunsch nach handfester Erfahrung sei jedoch nicht nur mit enormen Hoffnungen, sondern auch mit gravierenden Ängsten erfüllt. Nach einer relativ langen Zeit von Karrieresicherheit sei der berufliche Weg nun geprägt von einer riskanten Form der Lebensführung. Und das Praktikum ein „Versuch, in einem offenen Feld der Karriere probehalber einen Fuß in die Tür zu kriegen und zu schauen, ob der Fuß passt“. Regelmäßig bitten Studenten in mittleren Semestern Makropoulos um Empfehlungsschreiben für ihre Praktikumsbewerbungen. Und promovierte Kollegen („35-Jährige“) im Bereich der Geschichte oder der Kunstgeschichte absolvieren beispielsweise Praktika in kleinen Provinzmuseen. Das ist selbst Makropoulos, für den das Praktikum an sich ein sinnvolles Erprobungsfeld ist, zu viel: „Das sind Zwangssituationen im Schatten angestrebter Berufe, die nichts mehr mit Ausprobieren zu tun haben.“

Unternehmen nutzen die Leidensbereitschaft motivierter Nachwuchskräfte eben gerne aus. Die Musiksender Viva und MTV bezahlen ihre Praktikanten zwar noch, dafür produzieren diese auch einen Großteil des Programms. Selbst Vater Staat setzt auf unbezahlte Arbeitsverhältnisse. In der Verwaltung des Deutschen Bundestages arbeiten 236 Praktikanten für lau, und noch einmal 320, teils bezahlte Praktikanten finden sich bei den einzelnen Abgeordneten.

Makropoulos überlegt inzwischen, eine statistische Erhebung zu machen, wie viele Leute wo zu welchen Bedingungen Praktika absolvieren. Den Zeigefinger richtet er aber nicht nur auf die Nutznießer der Praktikanten, die Unternehmen. Sondern genauso auf die Praktikanten selbst. Eine Deregulation in der Geisteswissenschaft sieht er darin, dass immer weniger Studenten zu akademischen oder pädagogischen Laufbahnen neigen, sondern stattdessen in die Medien streben. Der kommunikative Sektor zeige sich als aufgeblasene Erweiterung des künstlerischen Bereichs. Menschen Mitte zwanzig auf der Suche nach einem Stück Selbstidentität. „Das ist so genannte unentfremdete Arbeit“, sagt Makropoulos, „in diesem Segment ist das Moment der Selbstausbeutung traditionell ganz stark.“

SEBASTIAN HEINZEL

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