: Nordöstlich von Berlin
Regisseur Volker Koepp verzahnt das große Rad der Geschichte mit dem gleichmütigen Kreislauf der Natur: Der Dokumentarfilm „Uckermark“ berichtet vom Leben in Deutschlands am dünnsten besiedelten Landstrich
von URS RICHTER
Gartenstühle standen umher, vor einer Bank aber, die sich an die Hauswand lehnte, waren doppelte Strohmatten gelegt. Auf eben dieser Bank, ein Bild des Behagens, saß der alte Stechlin in Joppe und breitkrempigem Filzhut und sah, während er aus seinem Meerschaum allerlei Ringe blies, auf ein Rundell, in dessen Mitte, von Blumen eingefaßt, eine kleine Fontäne plätscherte. (...) Ganz oben eine Plattform mit Fahnenstange, daran die preußische Flagge wehte, schwarz und weiß, alles schon ziemlich verschlissen. (Fontane, Der Stechlin)
„Sonderarbeitsbeschaffungsmaßnahme“, sagen die Restauratoren im Agrargerätemuseum, als Regisseur Volker Koepp nachfragt, was „SAM“ denn bedeute und postieren sich halb stolz, halb verlegen vor rostigen Kartoffelsieben. „Strukturanpassungsmaßnahme“, antwortet der auf sein Gut zurückgekehrte Graf und rechnet hoch, dass heute zwei, drei Angestellte all die Arbeit verrichten, mit der früher in der LPG 40 beschäftigt wurden. „Soziale Arbeitsmaßnahme“, vermuten die Frauen während der Kaffeepause im Bauwagen. Sie sind der Erwerbslosigkeit für ein paar Monate entronnen und klauben „archäologische Fundstücke“ aus Äckern.
Ein Kürzel geht um, nordöstlich von Berlin, in der Uckermark, dem flächengrößten und am dünnsten besiedelten Landkreis Deutschlands. Die wenigen Bewohner legen das Bürokratenwort nach Gusto aus, aber immer mit Bedacht. Über 20 Prozent der Bevölkerung haben offiziell keine Arbeit, inoffiziell kommen noch jene hinzu, die irgendwie mit irgendwas zugange sind.
Ein pummeliger Berliner Punk muss in der Landluft seinen Kopf sortieren. Eine Stellwerksangestellte eine Hand voll Bummelzüge pro Tag durchwinken. Ein Busfahrer sein leeres Gefährt übers Land kutschieren. Und auf dem Bänkchen vor dem Haus sitzen zwei Bauernkäuze mit kecken Hüten und deklinieren die Jahrzehnte durch: Vertreibung, Zwangsansiedlung, Entprivatisierung zur Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft und schließlich, nach der Wende, die Liquidation. Noch ein Bürokratenwort, dessen Übersetzung sie schmerzlich erlernen mussten.
Koepps Ruhe lockt sogar diese beiden Eigenbrödler auf eine unsichtbare Bühne, wo sie offenbar nur das zur Aufführung bringen, was sie wollen, aber immer doch ein bisschen mehr, als sie selbst vermuten. Deutlicher als durch gesprochene Worte erfährt man aus dem Ungesprochenen vom Leben, den Enttäuschungen und Hoffnungen der Porträtierten. Räuspern, Grummeln, ein flüchtiger Blick in die Kamera, ein standhafter Blick neben die Kamera, Antwortverweigerungen, anekdotische Ablenkmanöver – buchstäblich ungeschnitten nehmen die Uckermarker sich Zeit, davon haben sie genug. Koepp lässt sie gerne gewähren, sein Elan als Interviewer hält sich in Grenzen. Im Gegenteil, meistens ist er noch stoffeliger als seine Gesprächspartner, doch vielleicht war gerade das der Trick, ihnen den Mund zu öffnen.
So setzt sich im Laufe des Films ein Bild zusammen nicht nur der Region, sondern ganzer Epochen und ihrer Umbrüche. Kein Off-Kommentar, keine Zeittafel, kein Archivmaterial kommt dabei zu Hilfe. Allein aus den Erinnerungen und Ansichten der Befragten montiert Koepp seine Bestandsaufnahme. Wie ehemals fortgescheuchte Landjunker und frustrierte Vereinigungsverlierer nun versuchen, sich gegenseitig Mut zu machen. Wie ein Heiner Müller-Spezi in den 50ern, als junger Student, zu Agitpropzwecken schon einmal durch hiesige Dörfer gewandert ist. Wie der 84-jährige Adolf Heinrich von Arnim (er ähnelt, sagt seine neue Freundin, Fontanes Stechlin) den jungen Punk tröstet, wenn der an der Bushaltestelle Schwierigkeiten mit Glatzköpfigen bekommt: „Wissen Sie, ich habe gelernt, nichts ist so unwichtig wie die Länge der Haare.“
Nach seinem betulich-nostalgischen letzten Film Kurische Nehrung verzahnen Koepp und sein treuer Kameramann Thomas Plenert in Uckermark das große Rad der Geschichte mit dem gleichmütigen Kreislauf der Natur. Landschaftsidylle mit Neuschnee, Vollmond oder Klapperstorch unterbrechen die Erzählungen jener, die beizeiten unter dieses große Rad gekommen sind. Etwas willkürlich wirkt diese Bildmontage, ihre schlichte Wahrheit jedoch lautet, dass das Leben weitergeht. Koepps Helden möchte man dabei alles Gute wünschen, weil man sie mag.
Zeiten siehe Kinoprogramm
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