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Lautpoesie nichtet nicht

Sprach- und Sprechkünstler: Bachmann-Preisträger Michael Lentz schleuderte Wortblitze in den Vorhof der Hölle, also ins Junge Theater – ein Abend fast wie bei Dante

Er war der Dreizehnte. Denn außer ihm, dem wortgewaltigen Künstler und Philosophen, waren da nur noch zwölf Zuhörer im Güterbahnhof zum Hörzu-Festival des Jungen Theaters erschienen.

Davon bestand die Hälfte des Publikums aus einem Seminar der Angestelltenkammer. Und so vermutete der Dreizehnte denn auch lakonisch: „Dieses Theater scheint der Vorhof der Hölle zu sein. Vielleicht wird dieser Abend ja wie bei Dante...“ Wie zur Bestätigung rauschte draußen ein Zug durch die eisige Dunkelheit - irgendwohin mit unbekanntem Ziel. Und zu guter Letzt brachte Michael Lentz auch noch Martin Heidegger ins Spiel, den er bei Bremen zwangsläufig assoziiere: „Das Nichts nichtet.“

Nichtig war der Abend keineswegs. Der 41-jährige Ingeborg-Bachmann-Preisträger – durchaus gewohnt vor über 1000 Leuten aufzutreten– wusste die intime Atmosphäre geschickt für sich zu nutzen. Um so gewaltiger schlugen seine Wortblitze, Lauttiraden, sein Geräuschedonner ein in die Gehörgänge seiner Zuhörer und bahnten sich unaufhaltsam den Weg ins Hirn. Manchmal tat das richtig weh. Beispielsweise, wenn Lentz mit einem Effektgerät arbeitete, um seine „komprimierte Kindheit“ wiederzugeben.

„Ein Trialog mit mir, mir und mir“, kündigte er an und verfrachtete sich wie sein Publikum in eine vertonte Zeitschleife. Er agierte wie ein „DJ der Laute“ und flog fast atemlos und mit ungeheurem Tempo über seine Texte. Man konnte sich diesen herausgeschleuderten und hörbar gemachten Dämonen seiner Kindheit, seines Lebens, seines Denkens nicht mehr entziehen.

Diese präzisen, dynamischen Laut-Kompositionen verschluckten scheinbar alle unwesentlichen Nebengeräusche. Das ist Lentz‘sche Artikulation.

Er bewege sich, so der Autor über sich selbst, in einem Grenzbereich zwischen Lauten und Musik, der alle artikulatorischen Prozesse sinnlich erfahrbar mache. “Sprechen ist für mich etwas Existenzielles.“ Das bringt er dem Zuhörer in einem Mix von Lesung und Performance eindringlich nahe.

Da gibt es kein Entkommen, auch nicht vor seiner Wahrnehmung vom Tod. „Tod ist ein Einfall.“ Der scheint ihn in den möglichsten und unmöglichsten Variationen primär zu beherrschen: „...ist tot ist tot ist tot, ist über uns, ist in uns, ist überall, ist tot...“ Oder: „einer stirbt. was tun? man weint sich blass.“ Assoziative Sprach - und Sprechkunst. So etwas muss man mal gehört haben. Daniela Barth

“Neue Anagramme“, „Ende gut. Sprechakte“ und „ODER. Prosa“ sind erschienen im Verlag edition selene, „muttersterben“ bei S. Fischer.

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