piwik no script img

Liebe auf dem zweiten Beat

Ein Fall nachholender Rezeption: Anhand von Reissues wird heute die lange verborgene Geschichte des Reggae aufgearbeitet. Neue CD-Retrospektiven verhelfen den Klassikern des Genres zu einer Popularität, die sie zu ihrer Zeit in Europa nie hatten

Die frühen Dancehall-Künstler standen lange im Schatten des Bob-Marley-Erfolges

von NILS MICHAELIS

„Als wir 1991 mit Silly Walks Movement anfingen“, erinnert sich Ollie, Gründungsmitglied des wohl dienstältesten Soundsystems Deutschlands, „gab es noch keine vorgekaute Reggaegeschichte. Es war damals sehr mühsam, sich in die Materie einzuarbeiten.“ Anfang der Neunzigerjahre begannen Dancehall-Soundsystems in Deutschland – wie Silly Walks Movement in Hamburg, Pow Pow in Köln, Sound-Quake in Bielefeld oder Concrete Jungle in Berlin –, systematisch die alte Reggae- und neue Dancehallgeschichte auszuloten – um dann, fernab Jamaikas, eine eigene zu schrieben.

Fast unbeachtet von den Medien, findet diese seit rund zehn Jahren ihren Niederschlag. Mit ihrer ersten, selbst betitelten LP haben Silly Walks Movement nun als erstes deutschsprachiges Soundsystem Riddims für eine komplette CD produziert und für die Vocal-Parts jamaikanische Sänger und Sängerinnen wie Tanya Stephens, Buccaneer oder Luton Fyah engagiert. Im Vergleich zu den (mit Ausnahme von Gentleman) später dazugestoßenen Rittern des deutschsprachigen Dancehall-Booms spricht jedoch vieles dafür, dass diese Platte eine Sache für Insider bleiben wird. Es sind eher Hit-Bands wie Seeed oder charismatische Figuren wie Patrice, denen die Aufmerksamkeit der Medien zuteil wird. Obwohl es die Soundsystems waren, die in den Jahren zuvor die Basis des Booms schufen.

Eine verzerrte Reggae-Rezeption hat hierzulande Tradition. Eine Art Wiedergutmachung betreibt schon seit längerem das britische Label Soul Jazz Records aus London. Lange hatte man sich dort darauf spezialisiert, raregroovende Jazzplatten für Leute zu veröffentlichen, die ihren Jahresurlaub nicht darauf verwenden wollten, weltweit Flohmärkte und Spezialgeschäfte nach verschollenem Vinyl abzusuchen. Mit „100 % Dynamite“ startete man eine kenntnisreich editierte Reihe, mit der man die zuvor gewonnene Hörerschaft aus Rock-, Jazz-, und Elektronikhörern an kantige Reggae-Originale heranführte. Ermuntert von deren Erfolg, wagt sich das Label nun an eine aufwändig produzierte Geschichte des Studio One – neben Treasure Island eines der beiden kreativsten Zentren des frühen Ska und Rock-Steady, den Vorläufern von Reggae und Dancehall. Eine CD, eine DVD und ein 90-seitiges Booklet erläutern penibel die Hintergründe des Studios und seines Betreibers Clement „Sir Coxsone“ Dodd, die bis vor kurzem noch mit der Aura des Geheimwissens umgeben waren.

Dies ist wohl der vorläufige Höhepunkt einer nachholenden Rezeptionsgeschichte, die durch den Umstand gekennzeichnet ist, dass die Musik, der sie gilt, zu ihrer ursprünglichen Zeit hierzulande nicht stattfand. Fast schon vergessen ist, dass es lange Zeit ein einsamer Harry Belafonte war, der in Deutschland das musikalische Alleinvertretungsrecht für die Karibik innehatte. Damals, von den Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre, lagen überseeische Plattenimporte in den Händen weniger Major-Plattenfirmen – und die fanden, dass einer wie Belafonte den hiesigen Bedarf an karibischen Exotika ausreichend abdeckt. Das war’s – bzw. wäre es gewesen, hätte sich nicht während des Sommers 1958 ein folgenreicher Unfall ereignet: Ein junger Angehöriger der weißen jamaikanischen Oberschicht schrammt beim Segeln vor Jamaikas Küste über ein Riff, sein Boot geht unter, er selbst schafft es mit letzter Kraft, an den Strand zu schwimmen. Einige Rastas finden den total Erschöpften, geben ihm Wasser und Früchte – und retten ihn. Chris Blackwell lautet der Name des Schiffbrüchigen, und weil dieser bis dahin ein ziemlich zielloses Leben geführt hatte, retten die Rastas ihm nicht nur das Leben, sie geben diesem auch einen Sinn. Mit dem Rest der Geschichte kann man eine kleine Bibliothek, eine große Plattensammlung oder einen noch größeren Banktresor füllen: 1962 gründet Blackwell die Plattenfirma Island, für die er Anfang der Siebziger Bob Marley entdeckt. Dessen Sound feilt er für die Platte „Catch A Fire“ so zurecht, dass Reggae erstmals den Weg in die Ohren der weltweiten Rockhörerschaft finden sollte. Marley wird für Jamaika, was Coca-Cola für die USA ist. Als Blackwell Island 1989 an die PolyGram verkauft, erzielt die Firma einen Preis von 300 Millionen Pfund.

Dafür, dass Blackwell Reggae vom obskuren Randphänomen zu einem globalen machte, dafür will man ihm dankbar sein. Und doch war die Weise, in der Bob Marley Jamaikas Musik in der Welt repräsentierte, ungefähr so unvollständig wie das Bild, das Belafonte zuvor von Calypso abgeliefert hatte. Für Außenstehende kaum merklich, hatte Blackwell seinem Star einige westlich geprägte Merkmale untergeschoben: Wo zuvor rhythmusorientierte Basisstrukturen die Stücke dominierten, die sich aus dem Steinbruch der Reggaegeschichte bedienten, indem sie alte Riffs und Sounds in neue Kontexte pflanzten, bildeten bei Marley ausgetüftelte Melodien den Mittelpunkt. Je stärker das Charisma und das Songwriting des Ausnahmestars in den Vordergrund rückten, desto stärker rückte die Tradition in den Hintergrund. Als er 1981 starb, blickte die Welt eher auf Bob Marley als auf Reggae. Ein adäquater Nachfolger fand sich nicht.

Aber das war eher ein Problem für die internationalen Plattenfirmen als für Jamaikas Musikszene, denn dort war die Tradition längst dabei, neue Wege einzuschlagen. Die kürzlich veröffentlichte Platte „The Biggest Dancehall Anthems – 1979–1982 – The Birth Of Dancehall“ hält, was ihr Titel verspricht: die Entstehung jenes Stils nachzuzeichnen, der Marleys Roots-Reggae ablöste und der Jamaikas Musik bis heute dominiert. Anders als bei vielen Reggaeplatten der Sechziger- und Siebzigerjahre, kann man in diesem Fall aber nicht sagen, dass die hier zusammengestellten Künstler zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung hierzulande nicht verfügbar waren. Platten von Johnny Osbourne, The Wailing Souls, Clint Eastwood, Ranking Dread, Linval Thompson, Tony Tuff, General Saint konnte man in den Rezensionsspalten der damals in Deutschland tonangebenden Musikzeitschrift Sounds finden. Viel nützte dies allerdings nicht. Denn weil sich die neue Musikergeneration die Dreadlocks abgeschnitten hatte, war sie linientreuen Marley-Fans verdächtig.

Aber auch auf der Konsumentenseite war man Anfang der Achtzigerjahre entzweit. Progressive Musikhörer wandten sich dem New Wave oder dem Zitatpop zu und belächelten den naturverbundenen Mystizismus des Reggae. Dass die genannten Vorläufer des Dancehall derweil eher Alltagsbeobachtungen als Religiöses berichteten, machte aus dieser Perspektive keinen wesentlichen Unterschied.

Umso größer ist das Vergnügen, holt man heute das Versäumte nach. Im Vergleich zum opulenten Sound damaliger Major-Acts rücken hier vergleichsweise minimalistische Schlagzeug- und Bass-Interaktionen langsam in den Mittelpunkt. Überhaupt ist es eher eine schrittweise Transformation als ein harter stilistischer Bruch, der die Entstehung von Dancehall andeutet: Nur im Hintergrund erklingen hier die synthetischen Drum- und Keyboardklänge, die eigentlich den Dancehall-Sound charakterisieren. Dass die filigrane Basis trotzdem satte Hits trägt, beweisen Eek-A-Mouse und sein stolpernder Singjay-Gesang von „Wa-Do-Dem“, während Tony Tuff auf „Come Fe Mash It“ alpin jodelt und Ranking Joe mit „River Jordan“ belegt, weshalb er als einer der Urväter des Ragga-Gesangs gilt. Kurz: Dieser Überblick zur Frühphase des Dancehall ist essenziell.

Auch die 3-CD-Box „Jamaican R&B“ ist das Zeugnis einer Transformation, die die Entstehung der ersten eigenständigen Musik Jamaikas markierte: Ska. Vor der Entstehung von Ska wurde auf Jamaika US-amerikanischer Jazz und vor allem Rhythm ’n’ Blues gehört. Als Rhythm ’n’ Blues in den USA aus der Mode kam, begannen Jamaikas Musiker Adaptionen aufzunehmen. Und auf den ersten Blick klingt die Musik von „Jamaican R&B“ denn auch traditionell: Da gibt es schluchzende, am Nervenzusammenbruch entlanggesungene Doo-Woop-Nummern, Jazz-Solos, Swing-Bläser und Blues-Leid.

Erst genaueres Hinhören lässt jene „Fehler“ in der Adaption erkennen, die sich schließlich zu einem neuen Stil summieren sollten. Die etwas ungelenk staksende Rhythmussektion entwickelt einen wie betrunken wirkenden Überschwang, aus dem dann auf Stücken wie „I Need Some Lovin“ von den Blues Busters der reggaetypische Up-Beat aufsteigt. Hier kann man den energetischen Laurel Aitken hören. Und Jimmy Cliff, der sich in den Siebzigerjahren ein Gangsterimage zulegte, besingt mit Kastratenstimme und viel Schmalz „Dearest Beverly“, währen die verschleppt dahinstolpernden Solos des Posaunisten Rico Rodriguez die heimliche Jazzbegeisterung der ersten Generation von Ska-Musikern andeuten.

Aus der Adaption von US-R ’n’ B entstand auf Jamaika mit Ska der erste eigene Stil

Doch bei aller stilistischen Eigenständigkeit, die Jamaika seit Ska erlangt hatte, wurden Entwicklungen in den USA weiterhin verfolgt. Der „Lovers Rock“ entstand in den mittleren Siebzigern in England als Gegenbewegung zur religiösen Inbrunst des Roots-Reggae auf Jamaika. Dass der US-Disco-Einfluss für Lovers Rock von Interesse war, lag auf der Hand. Einige dieser Disco-Adaptionen hat nun das britische Label Soul Jazz Records für die Compilation „Hustle!“ zusammengetragen. Nach Namen wie Blood Sisters, Latisha, Xanadu And Sweet Lady oder Carol Cool, die darauf enthalten sind, sucht man in den sonst gut informierten Reggae-Nachschlagewerken jedoch vergeblich. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Musik ein von Reggae-Produzenten lancierter Coup war, um an den damals immensen Verkaufszahlen von Discoplatten partizipieren zu können. Egal: „Don’t Stop Till You Get Enough“, eigentlich von Michael Jackson, ist in der Version von Derrick Laro And Trinity ein todsicherer Tanzflächenfüller. Und auch wenn die Reggaeversion der Blood Sisters dem schon im Original billig klingenden „Ring My Bell“ nicht viel mehr als einige Up-Beats hinfügten, unterläuft der Charme dieser Nummer jede Abwehrmaßnahme. Bloß amüsant dagegen ist eine Version von „Rapper’s Delight“, von den Rapperinnen Xanadu And Sweet Lady eingesungen. Der Basis-Track der Sugarhill Gang wurde ohne Variationen übernommen, von Reggae keine Spur.

Während man (wenn auch als Ausnahmeerscheinung) schon mal US-Stile bis zur eigenen Unkenntlichkeit nachspielte, formierte sich im Disco-Herzland New York Gegenteiliges. Lloyd „Bullwackie“ Barnes, ein in den frühen Siebzigern nach New York ausgewanderter Jamaikaner, der dort ein Tonstudio betrieb, war einer der wenigen Figuren, der sich in den USA kreativ mit Dub-Reggae auseinander setzte. Auch hier waren es die kleinen Unterschiede, sublim versteckte Stilvariationen, die sich in der Rückschau als Träger großer Bedeutungen erweisen.

Auf „African Roots Act. 1–3“ lässt Bullwackie seine Musiker Stücke im Stil klassischer Roots-Riddims einspielen. Rätsel gibt derweil sein Sound auf, klingt er doch, als hätte jemand avancierte Studiotechnik dazu benutzt, die minimalistischen Tugenden eines Lee Perry mit modernen Mitteln zu reproduzieren. Doch wo Perry seine Stücke mit Melodien oder irren Effekten garnierte, belassen es Bullwackies Riddims bei der Essenz.

Entstanden sind auf diese Weise inspirierende Momente, an denen sich die Berliner Techno-, House- und Dub-Künstler um Basic Channel orientierten. Sie sind es denn auch, die sich nun für die Wiederveröffentlichung alter Bullwackies-Platten einsetzten. Denn nur was vom Staub der Archive befreit wird, kann die Zukunft bestimmen, auch wenn es zu seinen ersten Lebzeiten übersehen wurde.

Silly Walks Movement (Four Music); Studio One History (Soul Jazz Records, NTT); „The Biggest Dancehall Anthems – 1979–1982 – The Birth Of Dancehall“ (Greensleeves/Zomba); „JamaicanR & B“ (Trojan/Sanctuary Records), „Hustle! – Reggae Disco – Kingston, London, New York“ (Soul Jazz Records; „African Roots Act. 1–3“ (BMG/Wackies)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen