piwik no script img

Patrioten der besonderen Art

Jane Kramer las in der „American Academy“ aus ihrem neuen Buch zum Phänomen der Milizen, „The Lone Patriot“

Die Kälte verändert vieles und die Leute können das gar nicht richtig einschätzen. Der Mann zum Beispiel, der einen vor dem S-Bahnhof Yorckstraße um 50 Cent bat, mit denen er seine Frau anrufen wollte, bedachte nicht, wie viel länger es jetzt dauert an den Geldbeutel zu kommen, wenn man so viele Sachen anhat, was seinem Wunsch nicht gerade förderlich ist.

Später am Freitagabend sollte die berühmte amerikanische Journalistin Jane Kramer am Wannsee, in der „American Academy“, aus ihrem neuen Buch „The Lone Patriot“ vorlesen und über amerikanische Milizen diskutieren. Spätestens seit Michael Moores „Bowling for Colombine“ wird über das Waffennarrentum der Amerikaner wieder viel diskutiert. Aus europäischer Sicht ist es ja bizarr, dass in den Vereinigten Staaten auf einen Bürger jeweils drei Waffen kommen, dass so viele patriotische Milizen mit gemeinhin recht wirren Vorstellungen und Zielen halbwegs ungestört operieren können.

Mitte der Neunzigerjahre, als Kramer, die Korrespondentin des New Yorker, mit ihren Recherchen über John Pitner, den Führer der mittlerweile aufgelösten „Washington State Militia“, begann, schwankten die Zahlen zu den amerikanischen Patrioten – rechten Anarchisten sozusagen –, die in mehr als 800 paramilitärischen Gruppen organisiert waren, zwischen 40.000 (FBI) und 400.000. Zurzeit operieren noch 200 Milizen offen. Wie viele im Geheimen arbeiten, ist naturgemäß unklar.

Jane Kramer, die man als große alte Dame des New Journalism bezeichnete, wirkte sie nicht so jugendlich, agil, neugierig und irgendwie fast verschmitzt, war zwei Semester lang Gast der American Academy. Sie vertritt ein uramerikanisches Schreibgenre, literary non-fiction (wie Ed Sanders berühmtes Buch „The Family“ über Charles Manson oder auch Tom Wolfes Klassiker „Die Helden der Nation“), das es in Deutschland eher schwer hat.

Monatelang traf sie sich 1996 mit John Pitner. Wie andere amerikanische Milizionäre und in gewisser Hinsicht auch die islamistischen Terroristen, kämpfte Pitner, Sohn eines dekorierten Kriegsveterans, der selber in der Armee gescheitert war (nicht der Kriegsveteran, sondern der gescheiterte Soldat sei typisch für die amerikanischen Privatarmeen), gegen das, was er die „New World Order“ nannte. Eine antiamerikanische Verschwörung bestehend aus dem Präsidenten, der amerikanischen Armee, den Truppen der Vereinten Nationen und anderen Bösewichtern, die im Auftrag und bezahlt von David Rockefeller und dem Rest der im Geheimen herrschenden jüdisch-marxistischen Elite Amerika beherrschen.

Das mag bizarr klingen, aber drei bis vier Millionen Amerikaner seien ähnlicher Ansicht, so Jane Kramer. Der Milizchef hätte in ihr zwar einen Gegner gesehen, aber offen mit ihr gesprochen, vielleicht weil sie sich nicht verstellte, wie die Agenten des Staates, die seine Miliz unterwandern wollten.

Im Juli 1996 wurde Pitner wegen Verschwörung verhaftet, Anfang letzten Jahres wieder freigelassen. Die Dinge, von denen Jane Kramer berichtete, wirkten bizarr und erschreckend. Zum Beispiel, dass drei bis vier Millionen Amerikaner von ähnlichen Verschwörungstheorien überzeugt sind wie Pitner, oder dass in den US-amerikanischen Kirchen der aufklärerische Mainstream mittlerweile eine ziemliche Minderheitenposition ist. Einige amerikanische Psychiater sind übrigens der Ansicht, dass Gruppen wie die Washington State Militia die von ihren Mitgliedern geteilte Paranoia befrieden würden. DETLEF KUHLBRODT

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen