: Fallen in der Viererkette
Auch wenn Unwetterwarnungen zutreffen, schützen die meisten Menschen gerne Überraschung vor und kommen wie gestern massenweise zu spät zur Arbeit. Eine breite Front von Streu-Verweigerern unterstützt das. 110 BremerInnen allerdings mussten per Ambulanz ins Krankenhaus
Tage gibts – auf die wartet die Menschheit. Im Sommer beginnen sie bei 37 Grad. Plus versteht sich. Dann kann man endlich auch die ewig Makellosen schwitzen sehen. Im Winter beginnen die aufregenden Episoden im Leben von StädterInnen dagegen meistens nachts. So wie Sonntag.
Gegen 22 Uhr hatte das Verhängnis eingesetzt, dem bis gestern abend 110 FußgängerInnen verletzt buchstäblich erlagen. Bis in die vergangene Nach hielt es Feuerwehr und Ambulanzen im Dauerstress. Lalülala blitzte es blau durch die Stadt, hin zu überlasteten Notaufnahmen – bei reduziertem Rettungstempo. Aus gutem Grund: Bis zum späteren Nachmittag war allein im Bremer Stadtgebiet rund 80 Mal Blech auf Blech gekracht. Und das, obwohl die 23 orangen Groß-Streuwagen der Entsorgung Nord GmbH, kurz: ENO, schon seit Sonntagnacht, 21 Uhr, unterwegs waren. Sie sprutzten ein Salz-Sand-Gemisch auf die Fahrbahnen, wie es für solche Wetterlagen angemessen ist – auf die großen Straßen, die Einfallschneisen und Busspuren zuerst. Vier Stunden später folgten zusätzliche 22 Kleinstreuer, um ausgewählte Radwege, Haltestellen und Brücken zu enteisen, wo – ganz den Unwetterwarnungen entsprechend – Regen den tiefgefrorenen Untergrund mit Eis überzog.
Und doch rieben sich gestern Morgen Hunderttausende BremerInnen scheinbar verwundert die Augen. „Glatt! Vorsicht! “, gellte ein einziger Warnruf vor allem durch schmale Straßen von Vegesack bis Osterholz. Tausende nahmen ihn sich zu Herzen und machten langsam. So dass es nur Pflichtversessene pünktlich zur Arbeit schafften.
Die übrigen tasteten sich immer an der Wand lang oder Hand in Hand über Nachbars Gehweg – natürlich ungestreut –, zum nächsten Laden. Stellten sich halbstundenweise in die Schlange der Salz-Hungrigen und entschuldigten so ihr Zu-Spät-Kommen. „Der Gehweg muss doch frei sein!“ Wieder andere tranken noch einen Kaffee, verließen sich fürs Streuen auf die zuständigen MitmieterInnen – „wir sind eine WG, da ist sowieso niemand zuständig“ – und kamen unter Hinweis auf das übrige Chaos ebenfalls unpünktlich. Dritte wollten gerade aus dem Haus, da kehrten die Schulkinder schon wieder zurück: Schule begann gestern wie heute (Radio hören!) für die meisten Erst- bis ZehntklässlerInnen erst ab zehn Uhr. Das war gestern ungefähr der Zeitpunkt, als in Oldenburg alles zusammenbrach: Schluss mit Bus! – und viele BremerInnen sich als Sieger fühlten. Nur die Radkuriere nicht. Die liefen gestern fast alle zu Fuß. ede
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