: Polnische Versager
Geschichten von Verlierern und Dorfheiligen kratzt Artur Becker in seinem Erzählband „Die Milchstraße“ aus dem Boden seiner masurischen Heimat
von FRANK SCHÄFER
Osteuropäische Seelentiefe, Melancholia, der Bär im Mann, archaische Lebensweise, Naturromantik – all das geht einem durch den vorurteilsverhagelten Schädel, wenn man sich die Biografie Artur Beckers ansieht. 1985 macht er nach Westdeutschland rüber, als Student, beginnt auch bald auf Deutsch zu schreiben, aufgewachsen aber ist er in Masuren, im Ermland, also Polen, wo sich die Mythen ja nur so wie Kartoffeln aus dem guten Mutterboden kratzen lassen.
In „Der Pass“, der ersten und längsten Erzählung in „Die Milchstraße“, finden sich die eingangs antizipierten Klischees dann auch noch alle wieder. „Auf den Feldern lag der kalte Herbst … Dort standen Bauernhäuser in blasser Stille … Unter ihm glänzte braun der Fluss … Undurchdringlicher Nebel schwebte über dem Fluss …“ etc. So typisch sind denn auch die Menschen hier, undurchsichtig, wortkarg, hart, aber herzlich, gastfreundlich, ungezähmt, aber auch ihr Schicksal geduldig annehmend.
Es sind die Siebzigerjahre. Marek will auswandern nach Deutschland, braucht dafür einen Pass, den er nur bekommt, wenn er verheiratet ist. Und als ob es für solche Dinge Naturgesetze gäbe da drüben in Masuren, überlässt sein ältester Freund Bogdan ihm die Schwester zum Heiraten, und Natalia mit den schönen Beinen macht fraglos mit, vielleicht wurde sie auch gar nicht gefragt. Aber dann, wie es manchmal so geht im Leben und häufiger in Geschichten, verlieben sich die beiden ineinander – und die Probleme fangen an. Aber die Erzählung hört hier natürlich auf.
Trotz aller Vorbehalte wird man eingenommen von der melancholischen Aura des Textes, diesem fast märchenhaft eingetrübten Realismus, wirklich nur haarscharf an der miesen alten Butzenscheiben-Romantik vorbei. Das ist über weite Strecken so aus der Geschichte herausgefallen, dass man gleich aufmerkt, wenn sich die Zeitläufte mal wieder zu erkennen geben, etwa wenn Natalia mit den schönen Beinen Marek eine Kassette mit ihren Lieblingsstücken von Steely Dan schenkt, natürlich „aufgenommen aus dem Radio“!
Noch eine weitere Erzählung, die beste des Buches, ist auf diesen gebrochenen Mythenton gestimmt. Sinnigerweise steht sie am Schluss des Bandes, bildet folglich einen Rahmen mit der ersten. Das heißt, an den Rändern wird es unscharf, verschmilzt Beckers Prosa mit der geheimnisvollen Landschaft, von der sie kündet. „Kobra“ erzählt von Janek, der nach erfolgreich beendeter Schlosserlehre zurückkehrt in sein Heimatdorf. Seine Mutter hat man in der Woche zuvor im Garten beerdigt, bei den SS-Leuten, die seit Jahrzehnten dort modern, aber ihm nichts davon gesagt. Janek gräbt sie wieder aus, beerdigt sie woanders, will sich dann eine Frau suchen und wählt die Tochter des Dorfheiligen. Mit ihr rudert er sturzbesoffen hinaus auf die See, springt ins Wasser und ertrinkt: „Er wollte mir nur beweisen, dass er mich liebt, er konnte doch so gut schwimmen!“
Dass Artur Becker durchaus anders schreiben kann, nämlich humoristisch im klassischen Sinne, also in der Tradition Grimmelshausens oder noch eher Jaroslav Hašeks, hat er bereits mit seinem hübschen Schelmenroman „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“ vom letzten Jahr bewiesen. Überflüssigerweise taucht der Simplicissimus- und-Schwejk-Nachfahre Jimmy Koronko nebst seinem Neffen Teofil in einer der Geschichten im neuen Band wieder auf – überflüssigerweise deshalb, weil hier in geraffter Form eigentlich die Story des Romans noch einmal erzählt wird: Die Kleingaunerei in Kanada lohnt sich nicht mehr, hat sich nie gelohnt, und so fliegen die beiden Taugenichtse nach einem Jahrzehnt wieder zurück ins Land ihrer Ahnen.
Noch etwas anderes fällt an dieser Stelle auf: Wenn man erst mal den dunklen, schwerblütigen Sound der anderen beiden Erzählungen intus hat, dann weiß man die sanfte Skurrilität der komischen Stücke nicht mehr so zu schätzen. Und bei den Texten, die Becker im Westen situiert, in New York, Hamburg und Bremen, in denen seine polnischen Helden angekommen sind, die Emigration bereits vollzogen haben, bricht die geballte Profanität des ohnehin Bekannten in die Geschichten ein, was seiner Prosa ein bisschen den Reiz nimmt. Mit dieser kaputten, schmutzigen Ostexotik sieht sie allemal verruchter aus.
Artur Becker: „Die Milchstraße“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2002, 224 Seiten, 17,90 €
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