: Miau Miau, die coolste Frau
Ein nächtliches Zusammentreffen mit der Königin der Subkultur von Schanghai
Es wird Nacht in Schanghai, wie jeden Tag. Doch es ist keine Nacht wie jede andere, sondern eine besondere Nacht, es ist eine Nacht in Schanghai, und es ist Samstagnacht, wie es Samstagnacht nur in Schanghai sein kann, wenn Samstagnacht ist. Denn in Schanghai ist nichts wie anderswo auf der Welt oder gar in China, weil nur in Schanghai alles ist wie in Schanghai.
Ein in der Landesfarbe lackiertes gelbes Taxi rollt über eine der zahllosen Hochstraßen, wie in Schanghai die Hochstraßen heißen. Auf der Rückbank sitzt Miau Miau, die einen Superminirock oberhalb ihrer Beine trägt, und bläst den Rauch ihrer Zigarette durch zwei offene Löcher aus der Nase. „Fuck you“, flucht sie und sucht die Augen des Taxifahrers im Rückspiegel, doch der Taxifahrer bleibt cool und behält sie lieber im Gesicht. „Shit“, schimpft sie mit ihrer Stimme, die heiser ist wie ein Auto, das über einen Kiesweg fährt. Das ist so seit jener Zeit, als Miau Miau auf Uhu war. Sie schaut aus dem durchsichtigen Wagenfenster und betrachtet die atemberaubende Silhouette von Schanghais überwältigender Skyline. Schanghai ist das Manhattan Schanghais. Nirgendwo in Schanghai gibt es mehr Wolkenkratzer als in Schanghai, und man baut sie hier senkrecht nach oben. Miau Miau liebt Schanghai, und Schanghai wird von Miau Miau geliebt, das passt. Denn alles, was neu und machbar ist in Schanghai, scheint hier neu und machbar. Nirgendwo in Schanghai boomt die Wirtschaft wie in Schanghai, nirgendwo sind die Reichen und Schönen Schanghais so reich und schön wie in Schanghai, nirgendwo sonst ist das Nachtleben in Schanghai annähernd so cool und heiß wie in Schanghai zur Nacht. Schanghai, das ist Chinas Stadt der Illusionen, die Vision von Schanghai.
Miau Miau aber ist die Königin der Subkultur Schanghais, denn Schanghais Subkultur hat eine Königin: Miau Miau. Jeder kennt sie in dieser Megalopolis der fünfzehn Millionen, und sie kennt jeden, denn sie kennt sich, und sie ist wie alle. Als erste Untergrundautorin hat sie Schanghais Untergrund beschrieben. Ihr Bestseller „Bra Bra Bra“, so der Titel des Topsellers, wurde ein Gigaseller. Damit wurde Miau Miau eine der wichtigsten Untergrundautorinnen Schanghais, und die allerwichtigste ist Miau Miau.
Das Taxi schiebt sich durch Schanghais Vergnügungsviertel Xintiandi, das mitten in Schanghai liegt, denn Xintiandi ist das Vergnügungsviertel Schanghais. „Piss off!“, faucht Miau Miau und bezahlt den Taxidriver mit einer Tausenddollarnote. 978 Dollar 95 bekommt sie heraus, dann betritt sie das „Sugarbaby’s“ (Zuckersäuglings), den In-Treff von Schanghais Jeunesse dorée hier in Schanghai. Miau Miau kippt einen ultraschicken roten Drink von blauer Farbe, und auf dem Dancefloor tanzen die jungen Reichen mit den Beinen nach unten, wie es hip ist in Schanghai. Neben ihr stehen ihre beste Freundin Wau Wau, die keine Ohren mehr hat, seit sie ihr bei einem Techno-Rave von einem zugedröhnten Junkie abgetreten wurden, und der schwule Jazz-Sänger Mäh Mäh, der nur eine parfümierte Unterhose anhat und vorne eine Federboa reingeschoppelt hat.
Schanghais Szene ist einzigartig in Schanghai, das weiß Schanghais Szene. Miau Miau bröselt sich getrocknetes Seepferdchen in den Mund, das ist jetzt der ultimative Snack in Schanghai. Noch ultimativer sind nur Panda-Chips und Flussdelfin-Cracker. Nichts in der Megametropole Schanghai ist größer und abgefahrener als Schanghai. Aber es ist auch nichts gefährlicher in Schanghai als die Gefahren in Schanghai. Miau Miau weiß das. Schon als Schülerin verließ sie ihre Spießereltern, Tag für Tag. Ihr Vater war Russisch-Ingenieur, ihre Mutter Nudelköchin für Volkstänze. Seit Jahren hat Miau Miau sie nicht gesehen, das tröstet sie ein wenig. Mehrfach wollte Miau Miau Selbstmord begehen, doch das eine Mal war die Pfütze vor der Haustür schon ausgetrocknet, das andere Mal schaffte sie es nicht, aus dem Stand hoch genug zu springen, um sich beim Aufprall auf den Bürgersteig zu zermanschen, und es half auch nichts, als sie sich stundenlang mit einem Kissen auf den Kopf schlug; war nun das Kissen nicht hart oder ihr Kopf nicht weich genug, egal. Sie bleibt cool, denn man ist cool und narzisstisch in Schanghai, sonst wäre man nicht so cool und narzisstisch.
Miau Miau geht aufs Männerklo, sie pinkelt im Stehen, das machen auch die Männer so in der Global City Schanghai. „Sex fuck piss shit on off“, schreit sie in supermodernem Chinesisch, „Geschlecht beiwohnen harnen Scheibe ein aus“, doch die Kacheln schweigen, und dann telefoniert sie hektisch mit ihrem winzigen echthautbespannten Handy, aber mit niemandem sonst, ihr Kopf wirkt verloren auf ihrem Hals. Aber so ist Schanghai, die Megacity Schanghai – irgendwie ist sie wie Schanghai. Genau dieses Schanghai aber ist Kult in Schanghai, und es hat eine Botschaft an alle, die lautet: Schanghai hat eine Botschaft an alle. Dann ist in Schanghai wieder eine Nacht vorüber, und es wird nicht die letzte sein. Jedenfalls in Schanghai. PETER KÖHLER
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